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Alle meine Kühe

Joseph Zihlmann hat sie 1984 für die Weihnachtsnummer des «Willisauer Boten» geschrieben. Er erzählt von sich selber: Er ist nur ein armes Büblein, Sohn des Sigristen im Luzerner Hinterländer Dorf Hergiswil, aber er schafft sich seine reiche, lebendige Bubenwelt. Zihlmann hat in sein Tagebuch notiert, die Geschichte sei autobiographisch, sei aber nicht nur für Kinder geschrieben, sondern für erwachsene Zeitgenossen, die weit von dieser Kinderwelt abgekommen und in eine äusserlich reiche, aber innerlich verarmte Konsumwelt versunken seien. Man wolle, fügt er hinzu, «die Welt fertig ab der Stange beziehen … Der Mensch will nur noch leben; er hat das Er-leben verlernt. Wann merken die Menschen, dass man Leben nicht mit Geld erstehen kann? … dass menschliches Leben nur dann Leben ist, wenn es vollumfänglich ist, wenn es Leib, Seele und Geist einschliesst und natur-gegebene Wertordnungen setzt, – wie der kleine Bub in der Erzählung.»

Redaktor und Vorstand der BUBENBERGGESELLSCHAFT wünschen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, mit dieser feinsinnigen, ein-fachen Geschichte eine frohe und zugleich besinnliche Weihnachtszeit.

Die Napfwälder waren bereits seit einigen Tagen weiss. Nun schneite es auch auf die Matte hinter dem Holzschopf. So musste ich wohl oder übel meine Kühe im Stall behalten. Der grossen Buntgescheckten tat es gut; ich konnte sie ohnedies nicht mehr auf die Weide lassen, denn sie hatte tags zuvor zwei Kälblein geworfen. Jetzt gab sie Brieschmilch, und die wollte ich der Kirchhofvroni bringen für die Weihwasserversorgung auf den Gräbern über die Seelenzeit. Das taten alle anständigen Kuhbauern, denn Vroni hatte nur eine alte Geiss mit einem zusammengefallenen Euter. Da die kleine Braune gerade «gust» war, hatte ich nur eine Kuh zu melken, und das ergab gerade so viel, dass ich meine Mutter in der Küche nicht im Stiche lassen musste.

Ich war damals ein Käsehoch, und es ist nicht unwichtig, zu sagen, dass mein Kuhstall im Holzschopf unter einer Holzbeige untergebracht war und dass meine Kühe Tannzapfen waren, die frischgeworfenen Kälblein aber Föhrenzapfen. Es soll nun niemand kommen
und sagen, Tannzapfen seien keine Kühe. Ich weiss noch jetzt, dass es ganz richtige Kühe waren, und ich hatte sogar beobachtet, dass die grosse Gescheckte hinten links etwas lahm ging, so dass ich einmal den Viehdoktor rief. Die kleine Braune aber war eine ausgezeichnete Milchkuh.

Nun war bereits der erste Adventsonntag vorbei. Auf dem Lindenplatz klepften die Dorfbuben Abend für Abend mit ihren schweren Schaubgeisseln in die Dämmerung hinaus: St. Niklaus konnte nicht mehr weit sein.

Da stand eines Tages eine Frau auf dem Friedhof, der ganz nahe bei unserem Hause lag, und schüttelte den frischen Schnee von
den Herbstastern. Ich ging gerade in den Stall, denn es war Melkenszeit, und die kleine Braune hatte schon mehrmals «muu» gerufen. Die Frau kam vom Friedhof her zu unserem Brunnen, um sich die Hände zu waschen, und ich sah, dass es nicht eine aus dem Dorf war. Ich grüsste sie schüchtern. Sie grüsste mich auch und fragte mich, was ich da mache, denn ich hatte eine kleine Milchkanne in der Hand. Ich gehe in den Stall, gab ich zur Antwort, es sei Zeit zum Melken. Wo denn der Stall sei, wollte sie wissen, denn sie hatte natürlich bemerkt, dass ich kein Bauernbub war. Zuerst überlegte ich, wie ich die fremde Frau loswerden könnte, aber es fiel mir nichts ein, und ich stand da, wie ein halbschlaues Knechtlein. Schliesslich liess ich die Frau stehen und ging in den Stall. Aber sie folgte mir auf den Fersen, und es blieb mir schliesslich nichts anderes übrig, als ihr meinen Viehstand zu zeigen. Die grosse Buntgescheckte mochte das gar nicht leiden. Sie schlug mit ihrem Schwanz um sich wie im Sommer, wenn die Bremsen böse sind, und ich hoffte im Geheimen, dass sie der Dame eins auswischen würde. Ich zeigte ihr auch die zwei Kälblein, die schon ganz lustig umhertänzelten, streichelte diese, und sie säugten an den Fingern meiner rechten Hand. Die Kälber täten das alle, wollte ich der fremden Frau erklären. Da sah ich, dass sie weggegangen war. Ich besorgte den Stall, bedeckte das Viehlager mit frischer Streue und machte dann Feierabend.
Zu grossen Taten war keine Zeit mehr. Es
hatte Betzeit geläutet, im Kirchenfenster flackerte der rote Schein des Ewiglichtes. Von weit her war das Geläute von Kuhglocken zu hören: die Samichlausjagd war unterwegs. Die Bäume flüsterten leise, und der Frühwinter flockte um die Strassenlampe.

Als ich in die Stube kam, war die fremde Frau, die vom Kirchhof her gekommen war, dort. Sie knöpfte eben ihren pelzbesetzten Mantel zu, zog die ledernen Handschuhe an und verabschiedete sich von der Mutter. Sie werde wieder von sich hören lassen, sagte sie beim Hinausgehen. Was das für eine Frau gewesen sei, fragte ich. «Eine Dame aus der Stadt», erklärte die Mutter, und man sah ihr an, dass sie nicht weiter darüber reden mochte. Wahrscheinlich bemerkte sie aber, dass ich leicht die Achsel zuckte, und sie ergänzte: «– eine vornehme – eine mildtätige.» Freilich hatte ich schon so nebenbei gehört,dass es Menschen gebe, die ein mildes Herz in ihrem Busen haben, aber ich wusste nicht, was sich da tat, wenn jemand mildtätig war. Und ich wusste noch viel weniger, dass es Menschen gibt, die nur gerade in der Weihnachtszeit eine Art soziale Anfälle bekommen. Offen gestanden: mir war um diese Zeit der Samichlaus, der Türst und die Sträggele wichtiger, und es wäre von einem kleinen Dorfbuben nicht zu erwarten gewesen, dass die fremde Frau für ihn noch Fragen hinterlassen hätte.

Gegen Weihnachten war ich mehr im Stall als sonst. Zum Glück hatte ich im Sommer auf dem Grasblätz hinter dem Holzschopf etwas Heu und Emd gemacht, so dass jetzt meine Tiere nicht zu darben brauchten. Ich fütterte sie auch mehr als sonst und führte sie fleissig zur Tränke. Die Tierlein gingen jetzt einer wunderbaren Zeit entgegen, denn es hiess, die Kühe im Stall könnten in der Heiligen Nacht reden miteinander. Ich wusste wohl, dass es Leute gab, die darob die Achseln zuckten, aber das kümmerte mich wenig; wie hätte es auch anders sein können, da doch das Jesuskind in dieser Nacht im Stall bei Kuh und Eselein zur Erde kam. Zwei-, dreimal ging ich an späten Abenden heimlich hin und schlich mich auf den Zehenspitzen zum Stall, um zu hören, ob die Gescheckte vielleicht nicht schon vor dem Heiligen Abend ein wenig mit der Braunen rede. Aber ich hörte nichts als das Wiederkäuen meiner lieben Kühe, denen ich es so von Herzen gönnen mochte, dass sie jetzt einer so unsäglich glückseligen Nacht entgegengingen.

Dann kam der Heilige Abend. Ich sass mit meinen Geschwistern im Kämmerlein, wo eine Kerze flackerte. Wir beteten, wie es Sitte war, den Rosenkranz, und ich darf jetzt gestehen, dass wir ihn dann und wann unterbrachen, um zu hören, was sich in der Stube Christkindliches tat. Manchmal glaubte ich, vom Stall her ein verhaltenes «Muu» der kleinen Braunen zu hören. Wie freute ich mich für die Kälblein, die das Christnachtwunder zum erstenmal er-leben durften!

Ein himmlisches Klingeln war zu hören, die Türe ging auf; stürmisch und doch verhalten machten wir die paar Schritte in die Stube, wo der hellerleuchtete Weihnachtsbaum vor uns stand. Ich brauche das nicht weiter zu schildern, denn in Häusern, wo der Friede wohnt,
ist der Heilige Abend mit Kindern immer etwa dasselbe. Nur eines muss ich noch sagen: ich bekam an diesem Abend ein gar erdenschönes Schneuztüchlein, ein blaugerändertes mit roten Streifen, und dazu einen Lebkuchen. Das Christkind hätte das alles gebracht, hiess es dazumal, und ich glaube noch heute, dass meine Kinderseele deswegen keinen Schaden genommen hat.

Da standen aber doch noch einige Dinge unter dem Weihnachtsbaum, die uns recht fremdartig vorkamen. Die Mutter sagte, die mildtätige Frau aus der Stadt habe diese beim Christkind bestellt, und es bekam nun jedes das, was ihm zugedacht war. Ich weiss nicht, ob es zu erraten ist, was ich bekam: eine Kuh. Es war eine blecherne Kuh, etwa so gross wie meine Bubenfaust, mit einem rotgelben Fell, das mehr gestreift als gescheckt war, wohl eine fremdländische Rasse. Ich wusste im Moment nicht, was ich anfangen sollte; obwohl ich das Tier von allen Seiten betrachtete, konnte ich beim besten Willen nicht sagen, ob es mir gefiel. Das Unerhörte aber war, dass die Kuh Räder hatte, vorne zwei und hinten zwei, schön dort angebracht, wo richtige Kühe wie die meinigen, die jetzt im Stall in gottseliger Wonne durch die Heilige Nacht käuten, Klauen haben. Vielleicht sind Kühe, die Räder haben, Stadtkühe, überlegte ich, wahrscheinlich ist das wegen den schönen Strassen. Einen ganz kurzen Augenblick empfand ich etwas wie Freude, dann nahm ich mein Taschentüchlein und den Lebkuchen und verkroch mich in die Ofenecke.

Zu später Abendstunde sass ich dann bei meinen Kühen im Stall. Ich hatte vergessen,dass jetzt bald die Stunde nahte, da sie sprechen konnten … Mir war wichtiger, dass sie noch lebten. Es war, als hörte ich ihren Atem nicht mehr. Tatsächlich, – auch die Kälblein gaben gar keinen Laut. Ich nahm das neue Schneuztüchlein aus der Hosentasche und fing an zu flennen. Und als sich gar nichts tat, rief ich: «Schägg, – Bruni –, hört ihr mich?» Dann redete ich ihnen im Flüstertone zu und beteuerte ihnen, dass sie keine Angst zu haben bräuchten, ich würde zu ihnen stehen, ganz zu ihnen und nicht zu der Blechkuh, die gar kein Leben hatte, die viel zu fertig war und gar nicht wachsen konnte. Und es war mir, als müsste ich meinen lieben Kühen und den Kälblein beteuern, dass die mildtätige Fremde fortgegangen sei und dass sie niemals mehr zu kommen brauche, damit nicht mit neuen Blechkühen Unruhe in Haus und Stall gebracht würde.

Meine Kühe haben noch viele Kälber geworfen; ich habe zu meinem Viehstand Sorge getragen, habe die Gescheckte und die kleine Braune gemolken und habe ihnen sogar einen neuen Stall gebaut. Ich bin als Dorfbub mit allen meinen Kühen Bauer geblieben solange es sich schickte; wir haben zusammen das voll-umfängliche Leben gelebt, und ich bin als armer Bub glücklich gewesen. Die Blechkuh aber hat mir Verdruss gemacht. Sie konnte nicht zu meinem Viehstand gehören, weil ihr nie der Pulsschlag des einfältigen Herzens ein-gehaucht worden war.

Aus: Leben für das Hinterland. Josef Zihlmann – Seppi a de Wiggere. 1914–1990. Herausgeber Lothar Kaiser. Buchverlag Willisauer Bote 1995. S. 76–79.

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