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Vom Stammbuch zum «Poesiealbum»

Stammbuch-Gedichte von Goethe(ar) In der letzten Nummer kam Johann Wolf-gang Goethe mit einem Vierzeiler zu Wort, den er seinem Enkel Walther ins Stammbuch schrieb. Dieser Vierzeiler ist beileibe nicht sein einziges Stammbuchgedicht. Über Jahrzehnte hinweg hat er Leuten, die ihn darum baten, ein paar Verse ins Stammbuch geschrieben. Und da er schon in jungen Jahren, spätestens mit dem Erscheinen seines Briefromans «Die Leiden des jungen Werthers», in ganz Europa berühmt wird, ist auch der Kreis der Menschen, die er kennt und die ihn vor allem in den späteren Weimarer Jahren besuchen, sehr gross.

Zugegeben, Goethes Stammbuchverse gehören nicht zu seinen herausragenden Meisterwerken; aber es ist trotzdem reizvoll, sich einmal mit diesen Schnipseln aus seiner Dichterwerkstatt zu befassen. Sie spiegeln wie ein kleines Kaleidoskop die Vielfalt und Breite seines lyrischen Schaffens und sind obendrein ein hübsches kulturgeschichtliches Dokument. Ein Stammbuch zu besitzen, mit sich zu führen und Einträge von möglichst vielen Menschen – wo möglich von berühmten Leuten – zu sammeln, das scheint damals in bürgerlichen und adligen Kreisen durchwegs üblich gewesen zu sein: Alle haben ihr Stammbuch, Frauen und Männer; sie lassen sich Lebensweisheiten, Scherze, Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse hineinschreiben, und zwar meist in Vers-form.

Hier nun eine kleine Blütenlese goethescher Stammbuchverse. Was der Sinn eines Stammbuches sei und wie hoch man es schätzte, hat der über 60-jährige Dichter 1813 im Gedicht «Stammbuchs-Weihe» ausgedrückt, in einem Gedicht also, das ein Stamm-buch eröffnet, es einweiht:

«Muntre Gärten lieb ich mir,
Viele Blumen drinne,

Und du hast so einen hier,
Merk ich wohl, im Sinne.

Mögen Wünsche für dein Glück
Tausendfach erscheinen;
Grüsse sie mit heitrem Blick,
Und voran die meinen.»


Der bald 80-jährige Greis trifft im Dez. 1828 Auguste Jacobi (1803–1856), die Nichte eines Jugendfreundes, des Kaufmanns, Juristen, Schriftstellers und Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi. In dem für seinen Altersstil charakteristischen verhaltenen Ton, formuliert er eine wesentliche Erfahrung seines langen Lebens und umschreibt damit gleichfalls den Sinn eines Stammbuchs:

«Viel gute Lehren stehn in diesem Buche;

Summier ich sie, so heissts doch nur zuletzt;

Wohlmeinend schau umher und freundlich

suche,

So findest du, was Geist und Herz ergötzt.»

Schon der Student Goethe dichtet Stammbuchverse. Als 19-jähriger schreibt er dem Studienfreund Georg Gröning, später Bürgermeister von Bremen, folgenden studentischen Ulk ins Stammbuch:

«Was unterm Monde liegt, ist eitel!
Sprach Salomo und Phanias;

Und Goethe spricht heut abend eben das.

Leipzig, am Abend vor dem 28. August Dem Tage seiner Abreise, 1768.»

So unbeschwert, wie dieser Scherz vorgaukelt, dürfte es dem jungen Dichter allerdings nicht zumute gewesen sein. Hinter diesen Zeilen steckt eher Galgenhumor; denn die drei Leipziger Studienjahre enden mit einer schweren gesundheitlichen Krise: Krank kehrt Goethe ins Vaterhaus nach Frankfurt zurück. Nach der langwierigen Genesung folgen die Jahre des Aufbruchs: Goethe findet seinen eigenen Stil und wird mit den Werken jener Zeit – die Reihe beginnt mit dem Schauspiel «Götz von Berlichingen» – unbestrittenes Haupt und Idol der jungen Dichtergeneration. Einer unter ihnen, neben Goethe wohl der begabteste, ist der livländische Predigerssohn Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792). 1771 kommt er als «Hofmeister» – als Haus- oder Privatlehrer – mit einem Adligen nach Strassburg und befreundet sich dort mit dem jungen Goethe und dem etwas älteren Johann Gottfried Her-der. Ein paar Jahre später geht diese Freundschaft in die Brüche, und bald darauf zeigen sich bei Lenz erste Anzeichen von Geisteskrankheit. Nach unsteten Wanderjahren stirbt er gänzlich verarmt in Moskau. In den letzten Monaten ihrer Freundschaft schreibt Goethe ihm die folgenden übermütigen Sturm-und-Drang-Verse ins Stammbuch:

«Zur Erinnerung guter Stunden,

Aller Freuden, aller Wunden,
Aller Sorgen, aller Schmerzen
In zwei tollen Dichter-Herzen,
Noch im letzten Augenblick

Lass ich Lenzchen dies zurück.»

Nicht nur der genialische Jüngling ist zu Spässen aufgelegt, auch der Greis erlaubt sich gelegentlich kleine Scherze. Anfang Juni 1831, knappe zehn Monate vor seinem Tod, nimmt er offenbar an einem Ausflug zum Jagdschloss Belvedere teil und wird von der Weimarer Schauspielerin Ernestine Engels um ein paar Verse für ihr Stammbuch gebeten. Für weibliche Schönheit immer empfänglich, ist auch der greise Herr Geheimrat Frauen gegenüber galant und geht auf solche Wünsche ein:

«‹Donnerstag nach Belvedere!›

Und so gings die Woche fort;

Denn das war der Frauen Lehre:

Lustige Leute, lustiger Ort!

Üben wir auf unsern Zügen

Auch nicht mehr dergleichen Schwung,
Stiftet inniges Vergnügen

Heitern Glücks Erinnerung.»

Andere Töne schlägt der Dichter in seinen mittleren Jahren an, in seiner «klassischen» Epoche. Die Reise nach Italien 1786–1789 steigert seine Begeisterung für antike Kunst und Dichtung und spornt ihn dazu an, antiken Vorbildern nachzueifern. Er verwendet antike Versformen, schreibt grössere erzählende Gedichte wie «Hermann und Dorothea» oder «Reineke Fuchs» in Hexametern und lyrische Gedichte in sogenannten Distichen, bestehend aus einem Hexameter mit sechs betonten Silben bzw. Hebungen und einem Pentameter mit fünf Hebungen.

1793 schreibt er der Adelheid Amalia, Fürstin von Gallitzin (1748–1806), Gemahlin einesrussischen Diplomaten, ein Distichon ins Stammbuch, das in zwei Zeilen prägnant sein damaliges klassisches Credo ausspricht:

«Unterschieden ist nicht das Schöne vom

Guten; das Schöne

Ist nur das Gute, das sich lieblich ver-

schleiert uns zeigt.»

Selbstverständlich schreibt Goethe auch seinen engsten Familienangehörigen ins Stammbuch. Seine Lebensgefährtin Christiane Vulpius schenkt ihm mehrere Kinder, von denen aber nur der 1789 geborene Sohn Julius August Walther überlebt. Wie viele Kinder berühmter Männer kommt er nicht eben leicht mit seinem Leben zurecht. Nach Studien in Heidelberg steigt er zwar im weimarischen Hofdienst zum Geheimen Kammerrat auf, steht aber zeitlebens im übermächtigen Schatten seines Vaters. Im Frühling 1830 begibt er sich nach Italien, wo er im Oktober des gleichen Jahres an den Pocken stirbt.

Augusts Stammbuch verrät, dass man nahe-stehende Menschen wiederholt um Stammbucheinträge zu bitten pflegte. 1801, noch in der klassischen Epoche, schreibt der Vater seinem 12-jährigen Sohn so etwas wie ein «Stammbuch-Weihegedicht» hinein; in zwei Distichen erklärt er Sinn und Zweck eines Stammbuches:

«Gönnern reiche das Buch und reich es

Freund- und Gespielen,

Reich es dem Eilenden hin, der sich vor-

über bewegt.

Wer des freundlichen Worts, des Namens

Gabe dir spendet,

Häufet den edlen Schatz holden Erin-

nerns dir an.»

Ein paar Jahre später, 1805, doppelt er, wie-der mit einem Distichon, nach:

«Halte das Bild der Würdigen fest! Wie

leuchtende Sterne

Teilte sie aus die Natur durch den un-

endlichen Raum.»

Nach einer langen Pause – August ist bereits Geheimer Kammerrat – wird 1825 das alte Stammbuch wieder hervorgeholt, und
der 75-jährige Vater schreibt nochmals ein paar Verse hinein, jetzt nicht mehr in antiker Form, sondern in einem geschmeidigen Vers-mass aus neuerer Zeit:

«Dies Album lag so manches Jahr in Ban-

den,

Nun richtet sichs zu frischer Wandrung auf; Von früher Welt sind Freunde noch vorhan-

den,

Erneue sich ein heitrer Tageslauf.»

In der letzten Nummer blickten wir ins Stammbuch von Goethes älterem Enkel Walther Wolfgang, heute gucken wir in dasjenige des jüngeren Enkels Wolfgang Maximilian (1820–1883). Ihm schreibt der Grosspapa ein Gedicht mit dem Titel «Stammbuchs-Weihe» hinein:

«Meinem lieben Wölfchen – den 28. März 1826

Eile, Freunden dies zu reichen!
Bitte sie um eilig Zeichen,

Eilig Zeichen, dass sie lieben!

Lieben, das ist schnell geschrieben;
Feder aber darf nicht weilen,
Liebe will vorübereilen.»



Aus «Poesiealben» unserer Tage

Das alte Stammbuch ist heute praktisch verschwunden, es hat sich zum mindesten ganz ins Private zurückgezogen. Ich kenne noch ein paar Leute, meist ältere Menschen, die sich zur persönlichen Erbauung allerlei Sprüche, kurze Gedichte und Aphosismen in ein handliches Büchelchen schreiben.

Dafür hat das «Poesiealbum» bis heute allen Umwälzungen getrotzt; es ist allerdings sehr schmalbrüstig geworden. Zum einen bleibt es in den meisten Fällen eine Angelegenheit der Kinderjahre; nur selten dürfte es über die Pubertät hinaus als ein eigentlicher Lebensbegleiter weiter geführt werden. Das Umgekehrte ist eher der Fall: Nach einem kurzen Strohfeuer gerät das eben noch geliebte Poesiealbum in Vergessenheit, und wenn es später als Erinnerungsstück hervorgeholt wird, finden sich ein Dutzend Seiten gefüllt, dazwischen aber gähnen leere Seiten, oft mit Bleistiftvermerken versehen: «Götti Paul», «Tante Margrit» … Das zweite: Das «Poesiealbum» ist reine Mädchensache. Ich bin jeden-falls nie einem Knaben oder jungen Mann begegnet, der ein «Poesiealbum» besessen hätte.

Vielleicht ist das eine Nachwirkung jener Zeit der «Oberlehrer Glur» und «Direktor Wulicke», von denen der erste Beitrag dieser Nummer berichtet. Es mag in unserm Land nicht ganz so zackig zugegangen sein wie im wilhelminischen Deutschen Reich, «gepreusselt» hat es noch genug. In einer solchen Atmosphäre hat ein «Poesiealbum» in Knabenhänden nichts zu tun. Denn im gleichen Masse, wie man die Buben auf stramme Männlichkeit trimmte, erzog man die Mädchen aus bürgerlichen Häusern zu zarten Mondscheinpflänzchen: Weisshäutig mussten sie sein, eingezogen in ihre Häuslichkeit, still und ergeben des starken Mannes harrend, der sie dereinst an den Traualtar führen würde. Sie durften sich an gefühlsseliger Poesie ergötzen, zarte Bildchen und süsse Verse in «Poesiealben» malen.

Heutige «Poesiealben» sind zweifellos nicht mehr so von Gefühlsüberschwang gesättigt wie die aus der Jahrhundertwende, aber ein leise nachwehendes Düftlein von dazumal scheint mir noch aus manchen Einträgen entgegenzusäuseln. Doch statt vieler Worte hier nun einige Gedichte und Sprüche aus heutigen «Poesiealben», einzelne Albumseiten sind leicht verkleinert als Bilder eingefügt. Zuerst einige «Lebensweisheiten»:

«So recht begreifst Du’s erst,
Was Jugend war,

Wenn silbern sich bereift
Dein dunkles Haar.

Den Augenblick geniessen – ?
Vermessnes Wort!

Die Wasser fliessen und fliessen
Und sind fort …»

«O ringe nicht nach eiteln Klängen.
Zu oft sind sie des Zufalls Spiel.

Nein! Still zu schaffen, nicht zu glänzen
Sei Deines Lebens schönstes Ziel!»

«Im Glück nicht jubeln,
Im Sturm nicht zagen,

Das Unvermeidliche mit Würde tragen!»

«Vergesse nie die Heimat
Wo Deine Wiege stand
Du findest in der Ferne
Kein zweites Heimatland.»

Beliebt sind auch ganz kurze Sprüche wie:

«Mach es wie die Sonnenuhr,
Zähl die heitern Stunden nur.»

«In allen vier Ecken

Soll Liebe drin stecken.»

Wie sauer es manches Kind ankommt, sich einen Spruch auszudenken, verrät der folgende Zweizeiler:

«Weil ich kein Dichter bin,

Schreibe ich nur meinen Namen hin.»

«Stammbuch-Weihe»-Gedichte kommen kaum mehr vor; an ihre Stelle tritt etwa die ernstliche Mahnung:

«Ihr lieben Kinder gross und klein
Haltet mir das Album rein.

Denn es ist mir nicht gelegen,
Wenn ich müsst das Album fegen.»

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