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Das Schweizer Haus ist vielleicht ein Zelt

(ar) Diesen Titel trug der Leitartikel der NNZ zum 1. August 1999. Der Verfasser beobachtet einen Gegensatz oder Widerspruch: Im Sommer 1999 ging das Winzerfest in Vevey «als ein vom ‹Volk› einer Region getragenes, in der Geschichte verwurzeltes, symbolbefrachtetes
Gemeinschaftswerk» mit grossem Erfolg über die Bühne. Im Vergleich dazu fanden die letzten gesamtschweizerischen Jubiläen ein müdes Echo, stiessen auf Gleichgültigkeit. Eigentlich sei davon nichts Symbolkräftiges in Erinnerung geblieben ausser …
… dem Zelt von Botta, das sich – gekrönt vom Kranz der Kantonsfahnen – über dem Castello grande erhob als leichtes … Gebilde über Felsen und alten Mauern. Bild einer Schweiz, die trotz alter Geschichte jugendlich geblieben ist, oder Bild eines Landes, das fragil, beinahe losgelöst, über dem Fundament seiner Vergangenheit schwebt?
Immer mehr Symbole der Zusammengehörigkeit, nationaler und regionaler Identität würden aufgegeben: «Die SBB-Lokomotiven, lange Symbol einer gemeinsamen Anstrengung und Stolz von Generationen, fahren als Space- dream-Reklame daher». Das war um die letzte Jahrhundertwende anders: Das Parlamentsgebäude war im Bau, es solle, so schrieb damals die NZZ, «ein Denkmal sein … für unsere Geschichte und ein Symbol des eidgenössischen Staatsgedankens». Die Eidgenossenschaft habe nach ihrer tiefsten Krise (1798) einen langen Aufstieg erlebt und zu Ende des 19. Jahrhunderts einen Gipfel er-reicht: Der Bundesstaat sei zwar nicht voll-endet gewesen, aber von einem Schwung an-getrieben, dank dem er die Krisen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts bestand.
Dieser Schwung scheine jetzt aufgebraucht, obschon gerade heute «Europa» und die Jahrtausendwende zu «weiteren (Zeit-)-Horizonten» herausforderten. Es könnte sein, dass ein Abschnitt der Schweizer Geschichte zu Ende gehe und ein neuer folgen müsse. Deshalb dürfe man den Blick nicht nur auf die Gründung des Bundesstaates 1848 lenken, sondern auf den tiefen, in manchem unserer Zeit viel ähnlicheren Umbruch um 1800, als die alte Eidgenossenschaft unterging und eine neue zu entstehen begann.
Die alten Symbole haben ihre Leuchtkraft verloren; neue sollten an ihre Stelle treten. In den Schlussabschnitten seiner Betrachtung beleuchtet der Verfasser ein solches Symbol,nämlich die Abstimmung des Schweizervolkes übers Rätoromanische im Jahr 1938. Diese Gedanken geben wir ungekürzt wieder:
1938 erhoben die Schweizer Stimmbürger – die die Zerreissproben des Ersten Weltkrieges noch in Erinnerung hatten – das Rätoromanische zur Landessprache. Der Urnengang war vor allem ein symbolischer Akt. Er erklärte die Mehrsprachigkeit zum Wesensmerkmal der Eidgenossenschaft. Die Bedeutung ging über das Sprachliche hinaus. Die Eidgenossenschaft bekräftigte sichtbar ihre «Uridee», die Vielfalt – und damit die Minderheiten und Schwächeren – in der Einheit zu bewahren und gelten zu lassen.
Das ist leicht gesagt, aber schwer getan, wenn die Angst vor dem Feind weg ist. Das Schweizer Fernsehen, das seinen nationalen Auftrag immer im Munde führt, wenn es um seine Gebühren und Interessen geht, ist trotz allem Röstigraben-Hickhack seit der EWR-Abstimmung nicht einmal am eidgenössischen Wahltag in der Lage, die Sprachregionen in der Bundesstadt zu vereinen. Der stärkste Schweizer Stand setzt sein Englischunterricht-Projekt durch in einer Art und Weise, die besagt, dass ihm jenes Fundament, zu dem sich das Land in schwerer Zeit bekannte, nichts mehr gilt.
Wir leben in einer Zeit, in der wir unser Land nicht mehr mit Freiheitsgöttinnen, Helden und Scharen von Putten glorifizieren. Lassen wir den Allegorien die Symbole und den Symbolen die Grundsätze in den Orkus nacheilen? Ohne einen Kanon von Idealen verliert ein Land – ob Haus oder Zelt – den Halt. Solange wir die Willensnation wollen, ist die Teilhabe an drei grossen Sprach- und Kulturräumen (die auch Wirtschaftsräume sind) sichtbares Faktum, täglicher Test und strahlendes Symbol sowohl der Kohäsion als auch der Offenheit.

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