Neue Rechtschreibung: Ein Moratorium ist nötig

Am ersten August soll die neue Rechtschreibung in der Schule notenwirksam werden, dann gilt es ernst.

Die Folgen der besonders missratenen Regeln zur Kommasetzung und zur Wortbildung zeigten sich unlängst bei der Aufnahmeprüfung ins St. Galler Untergymnasium: Wegen ungeschickter Prüfungsanlage kam es zu einem ungerechtfertigten Punkteabzug. Nach den Sommerferien werden solche Abzüge an der Tagesordnung sein, denn was der Schule nun aufgezwungen wird, lässt sich nicht überschauen. Verbindlich wird nicht etwa die Regelung von 1996, auf der alle Lehrmittel aufbauen, sondern die zweite Fassung vom Juni 2004, zu der es kein Schulbuch gibt.

Da zurzeit der Rat für deutsche Rechtschreibung, der die erfolglose Reformkommission ablöste, an der dritten Fassung arbeitet, dürfen drei Kernbereiche noch nicht bewertet werden: die Getrennt- und Zusammenschreibung, die Zeichensetzung und die Worttrennung; dazu kommt ein nebelhafter «Überschneidungsbereich» zwischen Getrennt/Zusammen und Gross/Klein. Bei der Getrennt- und Zusammenschreibung hat der Rat bereits vorgeschlagen, die neuen Regeln weitgehend aufzugeben. Gemäss dem Vorsitzenden, dem einstigen bayerischen Kultusminister Hans Zehetmair, wird man aber auch die Bereiche überarbeiten, die von den Politikern für «unstrittig» gehalten werden: zum Beispiel die Gross- und Kleinschreibung und die Eindeutschung der Fremdwörter. .

Eine Kehrtwende haben kürzlich auch die Nachrichtenagenturen vollzogen. In ihrer Stellungnahme heisst es: «Wir lehnen grammatisch falsche Schreibweisen ab (z. B. Leid tun, Recht haben, das 8-Fache). Wir lehnen die unnötige Veränderung gewohnter Wortbilder und falsche Ableitungen ab (z. B. aufwändig; einbläuen, Quäntchen).» Es ist also unsicherer als je, was von dieser Reform bleiben wird.

Was empfiehlt das Generalsekretariat der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) den Lehrkräften in dieser Unsicherheit? Die zweite Fassung der Neuregelung, die soeben als Buch erschien und durch die Arbeit des Rates für Rechtschreibung bereits überholt ist. Das Werk listet von «amoralisch» bis «Zyste» Seite um Seite Wörter auf, die von der Neuregelung gar nicht betroffen sind, aber nirgends findet sich das, was die Schule eigentlich braucht: eine Übersicht dessen, was gegenüber der ersten Fassung geändert wurde und was von der dritten Fassung zu erwarten ist. Dass da etwas «leicht modifiziert» wird, wie das Generalsekretariat schreibt, lässt sich behaupten, solange niemand in der Nähe ist, der Bescheid weiss. Empfohlen werden ferner der Duden 2004 und ein Wörterbuch des Bertelsmann-Verlages, das zum August angekündigt ist. Verwendet werden heute die Wörterbücher der Jahre 1996 und 2000.
Sollen Lehrer, Eltern und Schüler jetzt Bücher kaufen, die nach einem Jahr veraltet sind? An einem Beispiel sei der Irrweg der Reformer gezeigt, auf den nun mit Notendruck auch die Schule gezwungen wird. Galt bis Juni 2004 nur die Getrenntschreibung kennen gelernt, so ist seither kennengelernt wieder möglich, wenn das Wort «adjektivisch» verwendet wird. Das ist Reform-Deutsch: «Die kennengelernte Stadt gefällt mir.» Um eine verfehlte Theorie halbwegs zu retten, wird an der Sprache herumgestümpert.

Was ist überhaupt von Fachleuten zu halten, die 1996 nach einer angeblich einfachen Regel so genannt schreiben und nach acht Jahren das vertraute sogenannt wieder zulassen? Warum dürfen in der Schweiz die für den Schaden Verantwortlichen an seiner Behebung mitarbeiten und sogar ihre akademischen Schüler nachziehen? Der Ratsvorsitzende Zehetmair klagte: «Ich habe das Problem, dass ich in dem Rat eine Menge Persönlichkeiten habe, die an der Altlast mittragen. Daher muss ich schauen, dass ich diese Leute integriere, sonst bekomme ich keine Zweidrittelmehrheit.»

Der Vorsitzende der EDK, der St. Galler Regierungsrat Stöckling, urteilte einst im Gespräch mit den «Schweizer Monatsheften» wohltuend nüchtern: «Es geht bei der Rechtschreibung nicht um einen politischen Entscheid über ‹richtig› oder ‹falsch›, sondern um den Entscheid über das für die Übereinstimmung mit der Sprachkonvention massgebende Referenzwerk.» Ein solches Referenzwerk gibt es zurzeit nicht. Folgerichtig wartet die Verwaltung von Bund und Kantonen die weitere Entwicklung ab. Die Schule, Ort besonderer Sorgfalt und Verantwortung, hat besonderen Grund, auch zuzuwarten.
Es ist zurzeit also unsicherer als je, was von der vorliegenden Rechtschreibreform am Ende noch bleiben wird.
Stefan Stirnemann

ist Lehrer am Gymnasium Friedberg in Gossau und Mitglied der Forschungsgruppe Deutsche Sprache (FDS, http://sprachforschung.org.

23. Juli St. Galler Tagblatt

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