Werden wir sprachlos?

Werden wir sprachlos? Es ist schon beängstigend, wie schlüssig Mathias
Schreiber im „Spiegel“ (mit dem Beitrag „Rettet dem Deutsch“) die
„fast paranoide Lust der Deutschen an der Vernachlässigung und
Vergröberung des eigenen Idioms“ beschreibt: „Verkürzung, Vereinfachung,
Vergröberung bilden die Trias einer gespenstischen Abwärtsdynamik der
gesprochenen und geschriebenen Sprache.“ Dazu kommt „der kollektive
Kniefall vor dem Sprachgestus der Angelsachsen“, sprich: Denglisch.

Selbst ein Rocher de Bronze der Sprachkritik wie Wolf Schneider hat
Anfälle von Resignation: „Es geht bergab mit der Sprache, machen wir uns
nichts vor.“ Denn gerade unter jungen Leuten ist „Grammatik unpopulär,
ihr Wortschatz schrumpft“, und sie betreiben das Sprechen „wie ein
Nebenprodukt des Gummikauens“.
[…]
Was wollen Sie eigentlich, höre ich jemanden sagen, die jungen Leute
verstehen einander doch. Und ist Verständigung nicht Sinn und Zweck allen
sprachlichen Austauschs?

Doch. Die Frage ist nur, ob das auch dann noch funktioniert, wenn Regeln
nichts mehr gelten. Die Fähigkeit der Menschen, sogar den Trümmern einer
Sprache noch etwas Verständliches zu entnehmen, ist erstaunlich.
Verständigung reißt erst mit dem Zusammenbruch des Systems ab. Die Frage
ist, wie lange das System, Sprache also, mit Verkürzungen,
Vereinfachungen, Vergröberungen und mit den Urlauten aus den Chatrooms am
Leben erhalten werden kann.

Sprache ist in Bewegung, soll es auch sein, soll immer neue Ausdrücke
produzieren. Nur: Wortzeugung findet nicht mehr statt, behauptet Wolf
Schneider. „Die Zeit des Aus-dem-Nichts-Erfindens aber ist vorbei.“ Wenn
etwas neu benannt werden muss, dann werden bekannte Wörter oder Kürzel
neu zusammengesetzt. Zum Beispiel: Chancengleichheit oder Umweltschutz
oder Multikulti. Das ist ein Warnsignal.

„In einer normfreien, anarchischen Schriftsprache“, schreibt der kundige
wie sensible Dieter E. Zimmer, „könnte sich niemand mehr verständigen,
auch nicht die glücklich von den Normen Befreiten untereinander.“

Hamburger Abendblatt vom 7.Okt.2006 (leicht gekürzt skd)

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