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Mehr Klartext, bitte!
Von Ulrich Wickert

In seiner „Ode an die deutsche Sprache“ schreibt der große argentinische Dichter Jorge Luis Borges: „Dich aber, süße Sprache Deutschlands, / Dich habe ich erwählt und gesucht, / ganz von mir aus. / In Nachtwachen und mit Grammatiken, / aus dem Dschungel der Deklinationen, / das Wörterbuch zur Hand, / das nie den präzisen Beiklang trifft, / näherte ich mich Dir? / Du Sprache Deutschlands, bist Dein Hauptwerk; / Die verschränkte Liebe der Wortverbindungen, / die offenen Vokale, die Klänge, / angemessen dem griechischen Hexameter?“
Da horche ich auf: Dich aber, süße Sprache Deutschlands, Dich habe ich erwählt und gesucht, ganz von mir aus. Mit einer Sprache kann wohl nur der glücklich werden, der sie erwählt und sucht, ganz von sich aus.
Anders ausgedrückt: Glücklich kann nur werden, wer die Sprache bewusst anwendet. Sprache und Geschichte lassen sich nicht trennen. Und Feinfühligkeit gegenüber dem Sinn von Worten gilt in besonderem Maße für die Deutschen – wegen der zwölf Jahre des Nationalsozialismus, wegen des Weltkrieges, der Konzentrationslager, Gaskammern, wegen der Judenvernichtung.
Nach dem Dritten Reich haben sich die Deutschen angewöhnt, mit ihrer Sprache besonders kritisch umzugehen. Doch häufig habe ich den Eindruck, dass schon eine Tabu-Haltung gegenüber Worten als kritisches Denken angesehen wird. Mit Bewusstsein hat das nichts zu tun. Denn der Sinn von Tabus ist ja, das Denken auszuschalten. Und Tabu sind – wegen Auschwitz – Worte wie etwa „Führer“.
So erklärte Rolf Hochhuth dem Literaturkritiker Hellmuth Karasek, er habe nie den „Führerschein“ gemacht, weil darin das Wort „Führer“ vorkomme. In seiner Strenge ist Hochhuth sehr deutsch. Er bestimmt als Kritiker die Gebote und Verbote. Karasek machte sich darüber lustig: „ Ich habe ja, obwohl man in meiner Kindheit mit erhobenem Arm „Heil Hitler“ grüßte, was damals alles andere als komisch war, Heil Hitler und Sieg Heil, trotzdem im Nachkrieg Heilbutt gegessen und Heilkräutertee getrunken.“
Ganz banal scheinende Worte unterliegen Tabus. Wird an deutschen Schulen die Frage von Schuluniformen angesprochen, dann kochen die Gefühle schon allein wegen des Begriffs Uniform hoch. Klüger ist, wer dann von Schulkleidung spricht. In Frankreich, England, Spanien sprechen alle von Uniformen, weil Uni-Form ja nur die Einförmigkeit der Kleidung bezeichnet. Aber Uniform heißt dann für die Wahrer der Tabus: Wehrmacht, heißt Verbrechen.
Das zeigt: Tabus verhindern das Denken. Wir wollen nicht mehr unmenschlich scheinen. Also verdrängen wir Worte, aber mit den Worten auch die Probleme, die diese Worte schildern.
So haben wir das gesellschaftlich bedeutende Wort „Unterschicht“ aussortiert. Weil ich persönlich Tabus hasse, habe ich in einem Fernsehgespräch den ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder gefragt, ob er aus der Unterschicht stamme. Er ist ein Barackenkind, die Familie lebte von Sozialhilfe und Schwarzarbeit der Mutter, Schröder konnte nicht auf das Gymnasium, weil das Geld fehlte.
Er hat das Wort angenommen und bestätigt: Ja, er sei ein Kind der Unterschicht. Schröder schilderte seine Jugend, fügte aber hinzu: ich habe alles getan, um aus der Unterschicht nach oben zu gelangen.
Weil das Dritte Reich für Rassenpolitik und die Verfolgung anders denkender Menschen steht, erleben wir in Deutschland allerdings auch unkritische Milde, ja, ein Übermaß an Toleranz, wenn es um Worte geht, die unseren Werten widersprechen, mit denen aber aus dem Ausland stammende Bürger in Deutschland Verbrechen rechtfertigen wollen.
Ich ärgere mich regelrecht, wenn ich das Wort „Ehrenmord“ höre. Selbst in Anführungszeichen oder mit einem „so genannt“ möchte ich es nicht lesen. Ehre und Mord widersprechen sich. Die Ehre eines Menschen beruht auf der Menschenwürde. Der Mord ist die Vernichtung des Menschen. Einen Mord aber mit der Menschwürde zu begründen ist aberwitzig, ist dumm.
Immer wieder hören wir, dass junge Frauen, die in Deutschland so leben wollen, wie junge Frauen in Deutschland leben, nach Beschluss des Familienrates von ihren jungen Brüdern oder Verwandten kaltblütig ermordet werden. Die Mörder kommen vor Gericht. Sie werden auch verurteilt. Aber weil sie sich mit dem Begriff „Ehrenmord“ verteidigen, haben Richter in Deutschland sich immer wieder dazu verleiten lassen, eine mildere Strafe zu verhängen, da es sich ja in der Heimat der Täter um einen „Ehrenmord“ handle.
George Orwell und das „Neusprech“
Ich glaube, viele Begriffe in der gesellschaftlichen und politischen Debatte müssen wieder ihrer ursprünglichen Bedeutung zugeordnet werden. Sie müssten wieder klar ausdrücken, was der meint, der sie benutzt, und nicht dazu dienen, das eigentlich Gemeinte schönrednerisch zu verschleiern.
Denn in der modernen Wohlstandsgesellschaft hat sich breitgemacht, was George Orwell in seinem Roman 1984 als „newspeak“, als Neusprech, bezeichnet hat. „Newspeak“ wird in der Gesellschaft von Orwells Roman angewendet, um den Menschen dort gedanklich die Möglichkeiten vorzuenthalten, Missstände klar benennen zu können. In der utopischen Zwangsgesellschaft von 1984 wird Klartext zur Gefahr für die Machthabenden. Und ohne dass wir es merken, leben auch wir längst in einer Art gedanklichen und sprachlichen Zwangsgesellschaft.
Wie das „Unterschicht“-Beispiel zeigt, wird auch bei uns häufig Neusprech angewendet, um einen gesellschaftlichen Missstand zu verschleiern. Unterschicht tut weh – als Wort. Prekariat versteht die Masse nicht – und vergisst das gesellschaftliche Problem.
Probleme lieber klar aussprechen
Klartext reden aber bedeutet: ein Problem beim Namen nennen. Selbst wenn es wehtut. Sonst können die Probleme nicht in ihrer wirklichen Tragweite wahrgenommen und erst recht nicht gelöst werden.
Klartext reden genügt aber nicht. Wer sich über einen Zustand beklagt, wer klare Rede und klares Denken einfordert, muss auch bereit sein, Verantwortung zu übernehmen und entsprechend zu handeln.
Sehr früh in meinem Leben als Fernsehjournalist erreichte mich der Brief einer Zuschauerin. Sie hatte in einer Sendung mehr als siebzig Fremdworte gezählt und beklagte sich darüber mit der Feststellung, viele Zuschauer würden diese Worte nicht verstehen. Gilt es eine Aussage zu treffen, so hat man häufig die Wahl zwischen einem Wort mit deutschem Stamm oder ein Fremdwort. Ich habe gelernt, das deutsche Wort wirkt stets stärker.
So benutzte ich nicht den Begriff „Sanktionen“. Die kommen immer dann vor, wenn vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wieder einmal Sanktionen gefordert oder beschlossen werden. Aber bitteschön, was sind Sanktionen? Strafmaßnahmen. Ja, den Begriff verstehe ich: Da steckt Strafe drin. Was Strafe bedeutet, weiß jeder von Kindesbeinen an, wahrscheinlich ist es selbst das eine oder andere Mal gestraft worden. Gegen welches Kind werden schon Sanktionen verhängt?
Politiker sehen es manchmal gar nicht gern, wenn Journalisten das deutsche Wort für einen Terminus technicus benutzen, eben weil es deutlicher ausdrückt, worum es geht. Ein Beispiel: 1999 machte sich der sozialdemokratische Innenminister Otto Schily daran, das Staatsbürgerschaftsrecht zu ändern, also die Bedingungen, unter denen man Deutscher wird. Bisher herrschte das ius sanguinis. Deutscher war, wer von deutschen Eltern abstammte.
Was aber bedeutet ius sanguinis? Das deutsche Wort dafür heißt: „Blutrecht“. Ei verdammt! Das klingt nicht gut. Da denken wir sofort an Blut und Scholle.
Nie im Fernsehen „Holocaust“ gesagt
Aber ius sanguinis heißt nun einmal Blutrecht. Und dieses Recht wollte der SPD-Innenminister abschaffen. So habe ich in meinen Moderationen zu der politischen Auseinandersetzung um das neue Staatsbürgerschaftsrecht gesagt, dass die Opposition sich gegen die Abschaffung des Blutrechts wende.
Auch der Begriff „Holocaust“ kam in meinen Moderationen nicht vor. Oder gar „Shoa“. Beide Worte sind über Filmtitel nach Deutschland gelangt: Holocaust über die gleichnamige Serie, die Ende der Siebzigerjahre gesendet wurde. Deren Ausstrahlung durch die ARD war heftig umstritten. Aber erst durch diese Serie bürgerte sich bei den Deutschen das Wort Holocaust ein, das aus dem Griechischen kommt und Brandopfer bedeutet. Ähnlich ging es dem Wort Shoa, so nannte Claude Lanzmann seinen bedrückenden Dokumentarfilm über die Judenverfolgung. Shoa, das ist hebräisch für Unheil. Statt Holocaust oder Shoa zu verwenden, sprach ich stets von der Vernichtung der Juden.
In den Zeiten der Finanzkrise können wir auch über die Ökonomisierung des Lebens – und damit der Sprache nachdenken. Die Ökonomisierung des Lebens bedeutet: alle Bereiche des Handelns werden nur noch nach dem Maßstab gewertet, ob es der Ökonomie nutzt. Was der Ökonomie nutzt, ist gut. Die ökonomische Begründung gibt Begriffen eine positive Deutung.
Josef Ackermann und die Gier
Die Gier ist eine der sieben Hauptsünden. Also nennen wir den Begriff um. Statt „Gier“ sagen wir „Profitmaximierung“, und schon wird aus der Sünde eine Tugend. Nun klagte Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann jüngst in der SZ, er könne das Wort „Gier“ nicht mehr hören. Von Sünden reden Sünder ungern. Sie geben sich lieber tugendhaft, so wird Herrn Ackermann die „Profitmaximierung“ genehm sein. Auch wenn dieser „Neusprech“ die Welt ins Unglück führt.
Rolf Hochhuth hat ein Sprachgesetz nach französischem Vorbild gefordert. Werfen wir also einen Blick auf das französische Gesetz für die Reinheit der Sprache. Staatlich diktiert werden da französische Worte für englische Ausdrücke: statt walkman baladeur (Spaziergänger); aus jumbo-jet wird grosporteur (Großträger); fast food wird verdaulich als prêt-à-manger (Konfektionsessen).
Doch manchmal sind selbst Beamte überfordert. Mit Beschluss vom 12. August 1976 verfügte die offenbar hilflose Terminologiekommission des Verteidigungsministeriums, das deutsche Wort „der Schnorchel“ sei im Französischen als „le schnorchel“ zu verwenden.
Frankreichs Gesetz zur Reinheit der Sprache
Die Begründung für das Gesetz zur Sprachreinheit in Frankreich klingt kabarettreif. Es sei eine „unverzichtbare Waffe im Kampf um den Erhalt der nationalen kulturellen Identität. Das größte Verbrechen ist der Mord an der Sprache einer Nation. Es gibt verschiedene Arten der Kolonisation, die schlimmste ist die innere Entfremdung von der eigenen Kultur, der eigenen Sprache. Wenn die Entwicklung so weitergeht, wird bald eine Handvoll Tauber über Millionen von Stummen regieren. Zum Schutz bedrohter Tierarten gibt es schon lange Gesetze. Es wurde höchste Zeit für ein Gesetz zum Schutz unserer bedrohten Sprache.“
Ich möchte nicht, dass der Staat sich in die Sprache einmischt. Reicht nicht, was Beamte und Politiker für ein Chaos mit der Rechtschreibreform geschaffen haben? Die Sprache lebt im Volk. Vergessen wir nicht, dass französische Hugenotten zur Zeit des Großen Kurfürsten nach Deutschland auswanderten, dass Verfolgte der Französischen Revolution auch ihre Sprache mit nach Preußen brachten.
Heute benutzen wir Worte, deren fremden Ursprung wir gar nicht mehr kennen. Wenn jemand etwas „ratzekahl“ auffrisst, dann leitet sich dieses Wort vom französischen „radical“ ab. Forschsein hat mit „force“ (mit Kraft) zu tun, und der Deez leitet sich von der „tête“ ab. Lassen wir die Sprache leben, wenn wir sie lieben und mit ihr glücklich sein wollen.
Die Welt vom 29. Nov. 2008

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