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Mythos Frühförderung

Je früher, desto besser: Nach diesem Grundsatz wird bereits auf Primarschulstufe Englisch und Französisch unterrichtet. Der Aufwand ist gross, der Nutzen bleibt bescheiden. Das zeigen neue internationale Studien und Erfahrungen von Lehrern.

In der Schweizer Bildungspolitik gilt es als ausgemacht: Je früher der Fremdsprachenunterricht einsetzt, desto besser. Statt wie früher an der Oberstufe soll bereits an der Primarschule damit begonnen werden. Und zwar nicht bloss mit einer, sondern mit zwei Fremdsprachen: einer zweiten Landessprache (in der Deutschschweiz Französisch) sowie Englisch. Die Kantone sind mit der Umsetzung unterschiedlich weit, die Direktive aber ist klar. Die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) hat mit Beschluss vom 25. März 2004 die «Strategie» vorgegeben – und dabei die Frühförderung ins Zentrum gerückt.

«Die Förderung der Sprachkompetenzen (Erstsprache und Fremdsprachen) ist ein elementares Bildungsziel; dabei gilt es vor allem, das frühe Sprachenlernen gezielt zu fördern.» Die vorgegebenen Ziele könnten «nur erreicht werden, wenn das Potenzial des frühen Sprachenlernens konsequent ausgeschöpft wird, was auch beinhaltet, dass spätestens bis zum 5. Schuljahr der Unterricht von zwei Fremdsprachen einsetzt». Das HarmoS-Konkordat legt den Zeitpunkt genauer fest: Die erste Fremdsprache muss «spätestens» ab dem dritten Schuljahr unterrichtet werden, die zweite «spätestens» ab dem fünften. Einzelne Kantone, wie etwa Zürich, beginnen mit der ersten Fremdsprache (in Zürich ist es Englisch) schon in der zweiten Primarklasse. 


Eine Art Wettlauf

Begründet wird die Frühförderung mit politischen und lernpsychologischen Argumenten. Die Schweiz müsse sich einem internationalen Trend anpassen, schreibt die EDK im «Entwurf für ein schweizerisches Gesamtsprachenkonzept». «Brennende Zukunftsfragen» könnten «nur noch grossräumig in internationaler Zusammenarbeit geregelt werden». Deshalb seien ihre Empfehlungen «mit der Sprachenpolitik des Europarates und der Europäischen Union kompatibel». Das «Weissbuch» der EU von 1995 verlange «von allen europäischen Bürgerinnen und Bürgern die Kenntnis von drei Gemeinschaftssprachen».

Vor diesem Hintergrund findet eine Art Wettlauf statt mit dem Ziel, immer jüngeren Schülern Fremdsprachenunterricht zu erteilen – und sich Prestige zu verschaffen. In einem «Positionspapier» vom Juni 2006 zum Thema «Zwei Fremdsprachen in der Primarschule» hält die Pädagogische Hochschule Zürich fest: «Gegenwärtig werden erst in zwei Ländern schon auf der Primarstufe nacheinander zwei zusätzliche Sprachen eingeführt (Luxemburg und Estland). Mit einem frühen Förderprogramm zur funktionalen Mehrsprachigkeit kann sich das Bildungssystem Schweiz profilieren und den Schülerinnen und Schülern spätere Vorteile verschaffen.»

Das Argument der politischen Profilierung muss man zur Kenntnis nehmen. Weniger klar ist die zweite Begründung: Bringt der frühe Fremdsprachenunterricht den erhofften Nutzen? Beherrschen Schüler, die schon auf Primarstufe in den Genuss von Französisch und Englisch kommen, am Ende der obligatorischen Schulzeit diese Sprachen besser?

Da die Umstellung noch im Gang ist, reichen hiesige Erfahrungen nicht aus, um abschliessende Antworten zu geben. Hilfreich ist ein Blick auf die internationale Forschung. Sprachwissenschaftler untersuchen seit Jahrzehnten, ob es einen Zusammenhang zwischen Alter und Sprachenlernen gibt (age factor). Die Befürworter eines frühen Fremdsprachenunterrichts berufen sich auf Resultate der Hirnforschung, wonach Kleinkinder mühelos neue Sprachen lernen. Das weiss jeder, der zweisprachig aufwachsende Kinder beobachtet – oder die Fortschritte von erwachsenen Einwanderern und ihrem Nachwuchs vergleicht.

Bildungspolitiker gingen in ihren Entscheiden davon aus, dieselben Gesetzmässigkeiten gälten auch für die Schule. Doch dem ist, wie Studien zeigen, nicht so. Die Forscher unterscheiden «natürliche» Sprachsituationen von «künstlichen»: Es sei etwas völlig anderes, ob ein Kind eine zweite Sprache beispielsweise durch seine Mutter lerne, in ständigem intensivem Sprachbad – oder ob es dies im Klassenzimmer tue, zwei Stunden pro Woche.

Diesen Unterschied habe die Politik ignoriert, schreibt Christián Abello-Contesse, Professor an der Universität Sevilla. Es sei eine «grobe Fehlinterpretation», den Grundsatz «Je früher, desto besser» auf den schulischen Unterricht zu übertragen. Das Phänomen sei weltweit zu beobachten: Im Bemühen, unbefriedigende Resultate des Unterrichts zu verbessern, setze die Politik das Alter ständig herab, in dem mit der ersten Fremdsprache begonnen werde.

Aufschlussreich ist das Beispiel Spaniens. 1993 setzte man den Beginn vom sechsten auf das dritte Schuljahr zurück, 2004 ging man noch weiter – seither fängt man schon in der ersten Klasse an (mit Englisch). Neben dem Team um Professor Abello-Contesse hat sich eine Forschergruppe an der Universität Barcelona auf das Thema Frühförderung spezialisiert. Die Language Acquisition Research Group (GRAL; www.ub.edu/GRAL) untersucht die Auswirkungen, die das Einstiegsalter auf den Erwerb einer Fremdsprache hat.

Die Resultate sind ernüchternd. Es mache «kaum einen Unterschied, ob Schüler mit vier, sechs, acht, neun oder elf Jahren beginnen», schreibt Professorin Teresa Navés. Da es in Spanien zwei Systeme gleichzeitig gegeben habe, seien Vergleiche möglich: «Die Resultate zeigen klar, dass am Ende der obligatorischen Schulzeit die Gruppe derjenigen Schüler, die bereits mit acht Jahren mit Englisch begonnen haben, nicht besser abschneidet als diejenige derer, die erst mit elf Jahren anfingen.» Es sei «leider eindeutig, dass der frühe Start allein» nicht zu den erhofften Ergebnissen führe.

Dass Professorin Navés diesen Umstand bedauert («leider»), macht ihre Aussagen umso glaubwürdiger. Dasselbe gilt für Marianne Nikolov, Professorin an der Universität Pécs in Ungarn. Um herauszufinden, ob Schüler, die früher mit Englisch begonnen haben, bessere Kenntnisse vorweisen als solche, die erst später anfingen, hat sie Tests im sechsten und zehnten Schuljahr durchgeführt. Ihr Schluss: Die Wirkung ist bestenfalls «schwach». Selbst wer schon im Kindergarten Englisch gelernt habe, könne «keinerlei Vorteil» aufweisen. Als «Befürworterin» eines frühen Fremdsprachenunterrichts habe sie «mehr» erwartet. Die Ergebnisse schienen «die Effizienz der Frühförderung in Frage zu stellen».

Die jüngsten Studien bestätigen Experimente seit den siebziger Jahren. Oller und Nagato (1974), Ekstrand (1976) oder Burstall (1976) sind in grossangelegten Experimenten zu denselben Resultaten gekommen: Fremdsprachenunterricht an der Primarschule bringe wenig. In einem einzigen Bereich ergäben sich Vorteile: Wer früher mit einer Fremdsprache in Kontakt komme, könne den Akzent der Muttersprache besser übertönen.

Thomas Scovel, Professor für angewandte Sprachwissenschaft an der San Francisco State University, hat diesen Effekt untersucht. Er warnt davor, falsche Schlüsse zu ziehen. Die Erkenntnisse über das akzentfreie Sprechen bedeuteten nicht, dass «die beste Zeit für die Einführung einer Fremdsprache in der Kindheit» liege. Der Grundsatz «Je früher, desto besser» sei ein «Mythos». 


Papier und Praxis

Erfahrungen, die Lehrer in der Schweiz machen, scheinen in eine ähnliche Richtung zu weisen. Jules Fickler, Präsident der Zürcher Mittelstufenlehrer, sagt über das Frühfranzösisch: «Die Lernfortschritte sind gering.»

Rettung versprach man sich vom immersiven Unterricht. Das bedeutet, dass man beispielsweise auch in der Sachkunde Englisch spricht. Auf dem Papier klinge das gut, sagt Fickler. In der Praxis funktioniere es nicht: «Sätze, welche die Schüler sprachlich verstehen, bringen von der Sachkunde her nichts.»

Kaum euphorischer klingt es an der Oberstufe. Ein Sekundarlehrer sagt: «Nach zwei, drei Monaten merkt man keinen Unterschied mehr, ob jemand Frühfranzösisch hatte oder nicht.» Eine Umfrage unter Gymnasiallehrern, die der deutsche Philologenverband im Januar veröffentlichte, bestätigt den Befund. In der Regel seien «bereits nach acht Wochen die Vorkenntnisse aus zwei bis vier Jahren Englischunterricht an Grundschulen durch den systematischen Fremdsprachenunterricht an der weiterführenden Schule eingeholt».

Angesprochen auf die eher mageren Resultate, sagt Martin Wendelspiess, Chef des Zürcher Volksschulamts: «Bei der Einführung des Frühfranzösischen wurden objektiv Fehler gemacht.» Sekundarlehrer hätten nicht durchweg auf dem aufgebaut, was in der Primarschule gelehrt und gelernt worden sei. Peter Imgrüth, Leiter Schulentwicklung im Kanton Luzern, meint: «Die Erfahrungen mit Frühfranzösisch sind ambivalent. Es zeigt sich, dass zwei Lektionen zu wenig sind und dass die Ausbildung der Lehrpersonen zu wenig stark gewichtet wurde.»

Es bleibt der Eindruck eines etwas naiv anmutenden Abenteuers. Im Lehrplan «Englisch Primarstufe», entwickelt von der Pädagogischen Hochschule Zürich, wird als eines der Lernziele angegeben: «Mit Hilfe des Europäischen Sprachenportfolios beurteilen die Lernenden den Fortschritt ihrer fremdsprachlichen Handlungskompetenz differenziert nach Teilkompetenzen. Gleichzeitig evaluieren sie ihren Lernprozess sowie den Einsatz von Lernstrategien und planen darauf aufbauend die nachfolgenden Lernsequenzen.»
Das richtet sich nicht etwa an Gymnasiasten oder Studenten, sondern an Primarschüler ab der zweiten Klasse. Anspruch und Wirklichkeit klaffen im frühen Fremdsprachenunterricht meilenweit auseinander.

Philipp Gut in der Weltwoche, Ausgabe 18/09 vom 29, April.2009,

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