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Peinliches Deutsch
Die Sprachflüchter

Gefahr für unsere Sprache: Eltern beschweren sich, dass in der Schule ihrer Kinder kaum mehr Deutsch gesprochen wird – und lassen den Nachwuchs schon im Kindergarten Englisch lernen. Englisch gefährdet Deutsch als Kultursprache.

Berliner Schulleiter hatten im Januar dieses Jahres in einem dramatischen Manifest auf die katastrophale Situation in den Schulen des Bezirks Mitte, genauer: des proletarischen und migrantenreichen westlichen Teils dieses Bezirks (Wedding), aufmerksam gemacht: Der Bildungsauftrag der Schule sei nicht zu erfüllen, wenn die Schulen nicht endlich in die Lage versetzt würden, Unterricht überhaupt zu ermöglichen. Und das heißt hier vor allem: die Einwandererkinder zu erreichen und ihnen als wichtigsten Schritt in das Leben in diesem Land dessen Sprache – Deutsch – zu vermitteln.

Das Problem ist nicht neu, sondern allen Betroffenen seit Jahren völlig klar. Der „Brandbrief“ war nun aber medial so gut platziert, dass offensichtlich sofort zusätzliche Lehrkräfte und Mittel mobilisiert wurden. Natürlich kann seitdem noch keine entscheidende Besserung eingetreten sein. Solche Maßnahmen erfordern Zeit, die Lösung des Problems nimmt Jahre und Millionen in Anspruch. Aber es tut sich was. Alle Bildungspolitiker der Republik wollen sich nun endlich darum kümmern (jedenfalls sagen sie es ständig), dass die Migrantenkinder Deutsch lernen, so dass Lernen und Integration möglich werden.

Bei den deutschen Eltern kommen solche Nachrichten als Horrormeldungen an: Staatliche Schulen sind offensichtlich Orte, an denen Lernen nicht möglich ist. Weil sie aber nicht warten können, bis die öffentlichen Schulen wieder zu Orten des Lernens geworden sind, lösen immer mehr deutsche Eltern das Problem auf ihre Weise. Sie schicken ihre Kinder auf private Schulen.

„International schools“ schießen aus dem Boden

Wie diese Lösung des Problems konkret aussieht, kann man gleich nebenan, im „richtigen“ Bezirk Mitte (und natürlich im flotten Prenzlauer Berg), und seit langem schon in den bürgerlichen Vierteln des Berliner Westens besichtigen. Der rasante Ausbau eines privaten Schulwesens, das sich die Eltern ziemlich viel Geld kosten lassen, sorgt für gute Lernbedingungen und die beabsichtigte soziale Exklusion. Was nun aber die so wichtige Frage der Sprache angeht, so wird allerdings auch dort – wie im Wedding – wenig oder nicht Deutsch gesprochen, jedenfalls nicht im Klassenzimmer: Die Unterrichtssprache ist Englisch.

„International Schools“, „Cosmopolitan Schools“ und so fort schießen nicht nur in Berlin aus dem Boden. Die Begeisterung ist groß und allgemein. Die Presse feiert den geschäftstüchtigen Bruder einer berühmten Schauspielerin als großartigen Philantropen, weil er eine solche Schule gegründet hat.

Stars aus der Glitzer-Medien-Welt präsentieren sich stolz als Modell-Eltern, weil sie ihre Kinder „selbstverständlich“ auf englischsprachige Schulen (und vorher in ebensolche Kinderkrippen und Kindergärten) schicken, die auf das 21. Jahrhundert und die globale Welt und wer weiß was sonst noch Schönes vorbereiten. Die Gründung einer ganz besonders teuren englischsprachigen Schule in der Nähe von Frankfurt durch einen um „Bildung“ besorgten Geschäftsmann fand kürzlich ungeheure mediale Aufmerksamkeit.

Bröckelnder Kitt

Dem Enthusiasmus für diese neue Schule ist allerdings bei näherem Hinsehen entgegenzuhalten, dass der Ausbau eines englischsprachigen Schulwesens in der Mitte Berlins und Deutschlands (in München, Hamburg und Köln ist es ja nicht anders) nicht nur eine Lösung des Schul-Problems darstellt, sondern gleichzeitig auch das damit verbundene gesellschaftliche Problem dramatisch zuspitzt: Während sich nämlich auf der einen Seite der gesellschaftlichen Skala ein erklecklicher Anteil der Menschen als unfähig oder unwillig erweist, in die deutsche Sprachgemeinschaft einzutreten, investiert das andere, obere Ende der Gesellschaft erhebliche Mittel und Anstrengungen in den Ausstieg aus der deutschen Sprachgemeinschaft. Die gemeinsame Sprache, daran ist vielleicht zu erinnern, war aber historisch der Kitt – im Grunde der einzige – der staatlichen Gemeinschaft der Deutschen.

An beiden Enden der Gesellschaft finden wir nun dieselbe kulturell-politische Einstellung, die diesen Kitt bröckeln lässt, nämlich die Geringschätzung der Nationalsprache Deutsch, allerdings aus ganz verschiedenen Gründen: aus Unkenntnis und bewusster Distanzierung einerseits, aus Angst und Ehrgeiz andererseits. Der Bildungsferne und dem Unwillen, Deutsch zu lernen, unten korrespondiert oben ein geradezu hysterisch aufgeladener Bildungswille, der im Ausstieg aus der Sprachgemeinschaft eine Bedingung für „höhere“ Bildung sieht.

Bourgeoisie ohne Kultursprache

Ein immer größer werdender Teil der jungen Bourgeoisie, die sich als Elite versteht oder zu dieser aufsteigen will, glaubt offenbar, die gesellschaftliche Stellung ihrer Kinder nur noch unter Aufgabe des Deutschen als Kultursprache verteidigen zu können.

Hoch-Deutsch ist dieser Elternschaft keine wertvolle Bildungssprache mehr, in der die geistige und kulturelle Entfaltung ihrer Kinder erfolgen soll. Die „hohe“ Sprache ist jetzt Englisch. Deutsch wird nur noch als eine niedere Volkssprache betrachtet, deren Besitz ihren Kindern gerade die leuchtende Zukunft in Aufsichtsräten und Vorständen verbaut. Natürlich wird an den englischsprachigen Schulen auch Deutsch unterrichtet, aber nur als ein Fach unter anderen. Es wird eben nicht mehr als Unterrichtssprache verwendet. Es ist nicht die „Bildungssprache“, in die hinein die Kinder erzogen werden. Die Furcht vor einer umfassenden Sozialisation in der deutschen Sprache ist die Basis für die glänzenden Geschäfte mit „English for babies“, englischsprachigen Kindergärten und den internationalen Schulen.

Reklame für schickere Stadtviertel

Die Schule war früher die große Agentur zum Erwerb oder zum Ausbau der Hoch- und Nationalsprache, die den Dialekt (oder eine andere Primärsprache) in die Sphäre der Familie und des Privaten rückte, als sogenannte Vernakularsprache. Die neue Schule, die mit viel Geld und viel Reklame in den schickeren Stadtvierteln blüht, bewirkt natürlich genau dasselbe: Sie ist die Agentur zum Erwerb der (höheren) Globalsprache und damit zur Herabstufung der alten Nationalsprache zu einer Vernakularsprache.

Wie im 18. Jahrhundert verabschiedet sich hier und heute eine Aristokratie aus der Sprach- und Kulturgemeinschaft. Das ist damals bekanntlich der Nation politisch und kulturell nicht bekommen: Politisch distanzierte die Sprachbarriere den französischsprachigen Adel mehr denn je vom Volk, und kulturell hat der frankophone Teil der Deutschen eher schwache Wirkungen gezeitigt: Die französischen Bücher von Leibniz, Friedrich dem Großen oder Alexander von Humboldt sind weder Teil der französischen Literatur geworden, noch sind sie in Deutschland angekommen. Sie schwebten eher im kulturellen Niemandsland.

Abschied der Elite

Dem erneuten Abschied der Elite aus der deutschen Nation entspricht keine gesamteuropäische oder gar globale Entwicklung. Franzosen oder Spanier denken gar nicht daran, ihre französische oder spanische Bildungssprache aufzugeben. Insofern bleiben die Deutschen deutsch, auch wenn sie die dazugehörige Sprache nicht mehr – oder nicht mehr gut – sprechen und schreiben.

Natürlich müssen heute alle Kinder Englisch lernen, das heißt: eine – funktional abgestufte – Zweisprachigkeit ist möglichst von allen Schulen zu vermitteln. Es geht bei dem neo-anglophonen deutschen Schulwesen aber nicht wirklich um die Entwicklung von Zwei- oder Mehrsprachigkeit, die auf den Webseiten der Etablissements aus Reklamegründen gern bemüht wird, weil Bi- und Multilinguismus inzwischen zu einem heiligen – also völlig unantastbaren und unhinterfragten – Bildungswert aufgestiegen ist.

Wenn es um die Förderung von Mehrsprachigkeit ginge, hätte man die Kinder durchaus in die deutsche Staats-Schule schicken können, wo man nicht nur viele Mitschüler mit verschiedenen Erstsprachen trifft, sondern wo durch gut ausgebildete Lehrer eigentlich immer ein sehr anständiger Fremdsprachenunterricht erteilt und eine durchaus passable Mehrsprachigkeit vermittelt wurde.

Oder wenn dies an den staatlichen Schulen nicht gewährleistet ist – man hätte sich ja in Privatschulen mit Deutsch als Unterrichtssprache und einem intensiven Fremdsprachenunterricht flüchten können. Es geht in Wirklichkeit aber einzig um die Fertigkeit in der „Einen Hohen Sprache“. Dieser Wunsch und der entsprechende Druck auf das Schulwesen sind gegenwärtig so stark, dass auch immer mehr – im Prinzip deutschsprachige – „Elite“-Staatsschulen zur „höheren“ englischen Einsprachigkeit übergehen.

Schulterzucken über die „jungen Leut“

Nun, man könnte sich mit dem üblichen Schulterzucken über den Lauf der – sich jetzt so glücklich globalisierenden – Welt beruhigen: „Sind halt aso, die jungen Leut!“ Und sicher werden meine Bemerkungen keine einzige Prenzlbergerin dazu bewegen, ihr Kind von der Warteliste für „English for babies“ und die darauf aufbauenden kommerziellen Sprachangebote („for toddlers“, „for kids“, „international school“) streichen zu lassen.

Dennoch wäre vielleicht noch Folgendes zu bedenken, das ja durchaus ebenfalls die Zukunft der „babies“, „toddlers“ und „kids“ betrifft: Nicht nur gefährdet die sich aus der Nationalsprache verabschiedende Elite die traditionelle kulturelle Kohärenz der Nation, sie erschwert mit ihrem Ausstieg auch den weiteren demokratischen Ausbau der Nation „von unten“, das heißt: die sprachliche Integration der Migranten, auf die wir so dringend angewiesen sind:

Denn wieso sollen eigentlich die Migranten in die deutsche Sprache einsteigen, wenn offensichtlich gerade die besonders ehrgeizigen Deutschen aus ihrer Sprache – und aus der Schule, in der diese Sprache Unterrichtssprache ist – aussteigen?

So dumm sind die Migranten nicht

So dumm sind die Migranten nicht, dass sie nicht sehen würden, dass sie mit dem Erwerb des Deutschen ja nur eine zweite Vernakularsprache lernen, wenn doch die „Hohe Sprache“ des Landes – oder wie Herr Oettinger sagt: die „Arbeitssprache“ – Englisch ist. Eine zweite Vernakularsprache brauchen sie nicht. Wozu also die Mühe? Die schicke englischsprachige (Privat-)Schule für Deutsche in Deutschlands Mitte ist nicht das Signal an die Migranten, hier anzukommen, sondern im Gegenteil eine deutliche Aufforderung, zu bleiben, wo sie sind, nämlich unter sich, oder aber – wie wir Deutsche – von hier abzuhauen: ins Globale. Jürgen Trabant, Süddeutsche Zeitung vom 15.Dez.2009

Der Autor war Professor für Romanische Sprachwissenschaft an der Freien Universität Berlin und ist jetzt Professor of European Plurilingualism an der Jacobs University in Bremen.

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