• Allgemein
  • 0

Ein Plädoyer für die Vielsprachigkeit

Für ein differenziertes Sprachregime in den Wissenschaften ohne den totalitären Zwang zum globalesischen Einheitsidiom.

Von Jürgen Trabant

Der Sprachwissenschaftler und Direktor des Tokioter Deutschen Instituts für Japan-Studien, Florian Coulmas, hat es kürzlich noch einmal für nötig befunden, in der „Neuen Zürcher Zeitung“ das Englische als weltweite Wissenschaftssprache anzupreisen – unter nachdrücklicher Schmähung der reaktionären Kräfte, die sich diesem progressiven Trend widersetzen und in den alten europäischen Wissenschaftssprachen weiterarbeiten wollen, etwa in Deutsch.

Selbstverständlich spricht oder schreibt „die Wissenschaft“ jetzt global englisch, und wir haben eine globale wissenschaftliche Kommunikationsgemeinschaft. Das braucht uns aber niemand mehr zu empfehlen.

Von Zürich über Poughkeepsie, Tokio und Neu-Delhi nach Galway können Wissenschaftler ihre herrlichen Forschungsergebnisse auf Englisch verbreiten, die vorher über Flensburg und Innsbruck nicht hinausgekommen sind. Ein alter Traum der Menschheit ist in der Wissenschaft wahr geworden: eine Sprache für alle. Der Sieg der einen Sprache ist total oder wird in Bälde total sein, weil die Jugend der Welt offensichtlich begeistert dem Beispiel des flotten deutschen Sprachwissenschaftlers folgt und auf Globalesisch forscht und schreibt (ob das allerdings eine „Bereicherung“ ist, wie der Titel des Artikels behauptet, sei dahingestellt). Warum aber müssen die verbliebenen besiegten Gegner dieser schönen neuen Wissenschaftswelt völlig ausgerottet werden?

Warum sollen diejenigen nicht in Ruhe weitermachen, die lieber in ihren alten Kultursprachen wissenschaftlich arbeiten und publizieren wollen? Die Gründe dafür, dass es trotz des globalen Kommunikationsraums sinnvoll ist, in den alten Sprachen weiter Wissenschaft zu betreiben, sind nicht verwerflich, sie sind auch nicht dumm und unwissenschaftlich. Daher zeichnet sich als Lösung der Frage nach der Sprache der Wissenschaft längst ein differenziertes Sprachregime ab, in dem das Globalesische und die alten Wissenschaftssprachen jeweils ihre Plätze haben. Die Details dieser neuen Sprachkonstellation sind allerdings noch auszuhandeln. Es geht darum zu klären, in welcher Phase der wissenschaftlichen Ausbildung Englisch verwendet werden soll, in welchen Disziplinen das sinnvoll ist und ob es ums Schreiben oder auch ums Sprechen geht.

Der siegreiche Spötter benutzt bei seiner Invektive gegen die Freunde der alten Wissenschaftssprachen ein verräterisches Wort: „Religionskrieg“: „Wie bei einem Religionskrieg folgt auf die Niederlage nicht die freiwillige Bekehrung“, stellt er fest. Altmodische Heiden verweigern sich also verstockt dem neuen Glauben der neuen Weltsprache – offensichtlich einem linguistischen Monotheismus. Der siegreichen Religion ist es noch nicht gelungen, alle Ungläubigen zu bekehren.

Es ist eine historische Erfahrung, dass Religionskriege trotz aller Siege nicht wirklich zu gewinnen sind: Die besiegten Götter treiben sich als Gespenster und Geister im Untergrund herum (Voodoo), die Zwangsbekehrten betreiben ihre Religion heimlich weiter (wie die spanischen Maranen), die Verstockten flüchten in Wälder (französische Protestanten) und fremde Länder (Juden, Hugenotten, Quäker). Religionskriege enden erst, wenn die Religionen ihren Fundamentalismus, ihre Intoleranz, ihren Absolutheitsanspruch aufgeben. Genau darum muss es gehen in der Auseinandersetzung um die Frage nach der Sprache der Wissenschaft. Sie darf keine fundamentalistische, religiöse Auseinandersetzung sein – gerade weil Wissenschaftler Menschen sind, die sich rational miteinander verständigen.

Als verderbliche Irrlehrer werden diejenigen gebrandmarkt, die glauben, dass Sprache ein Instrument des Denkens sei und dass Sprache und Denken miteinander verbunden seien, die gern in ihrer eigenen Sprache wissenschaftlich denken, also Nationalisten (Muttersprache, Vaterland) sind. Richtig wäre es dagegen anzunehmen, dass zuerst gedacht wird – ohne Sprache – und dann gesprochen wird, dass Sprache also nur zur Kommunikation von etwas außerhalb der Sprache Gedachtem dient. Da der wissenschaftliche Gedanke universal sei, hätten außerdem Muttersprache und Vaterland hierbei nichts zu suchen, sondern wäre das Englische wegen seiner universalen Reichweite zu verwenden.

Beide Auffassungen sind aber richtig. Es handelt sich hier nämlich um etwas, das als Antinomie der sprachlichen Vernunft bezeichnet werden könnte. Und es geht in der derzeitigen Transformationsperiode des wissenschaftlichen Kommunikationsraums darum, beiden Sprachauffassungen die ihnen zustehenden Betätigungsfelder einzuräumen.

Dabei ist übrigens das, was als modern daherkommt, die ältere Sprachauffassung: Jahrhundertelang haben alle europäischen Schüler von Aristoteles gelernt, dass die Menschen ohne Sprache denken und dass diese Gedanken bei allen Menschen gleich sind. Wenn sie das Gedachte anderen mitteilen möchten, verbinden sie bestimmte Laute mit den Gedanken. Diese Laute sind die Wörter, und diese sind in den verschiedenen Sprachen verschieden. Da sie nichts mit dem Denken zu tun haben, ist es völlig gleichgültig, in welcher Sprache der Gedanke kommuniziert wird.

Diese eher triviale Auffassung ist nicht falsch. Denn tatsächlich funktioniert Sprache im praktischen Leben so: A teilt dem B etwas – einen Sachverhalt, einen Gedanken, einen Wunsch – mit, es kommt ihm dabei auf die möglichst reibungslose Übermittlung des Etwas an. Und da ist es ihm völlig gleichgültig, mit welchen Lauten oder Zeichen dies geschieht. Hauptsache, es funktioniert, es geht ganz um die Sache. Nehmen wir an, A verspürt einen brennenden Durst, da ist es ihm völlig gleichgültig, ob er „ein Bier“ oder „una cerveza“ sagen muss. Er will einfach seinen Wunsch kommunizieren und seinen Durst löschen.

Die Realität – der Gedanke, die bezeichnete Sache – ist in den praktischen Lebensumständen zumeist so stark, dass es allein auf sie ankommt. Tatsächlich funktioniert Sprache auch in (einem großen Teil) der Wissenschaft so: Der Geograph hat berechnet, dass der Fuji 3776 Meter hoch ist und teilt dies allen mit, die das wissen wollen, mit irgendwelchen Zeichen, es muss nicht Japanisch sein. Der Astronom hat herausgefunden, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Das heißt, Wissenschaft gewinnt durch Messen, Rechnen, Sezieren und andere außersprachliche Operationen Fakten-Wissen. Dafür ist es in der Tat ziemlich gleichgültig, mit welchen Lauten oder Zeichen es mitgeteilt wird. Damit die für alle Menschen gleichen Fakten möglichst weit verbreitet werden, ist es nur praktisch, wenn das in dem am meisten verbreiteten Zeichensystem geschieht.

Allerdings ist das nicht die ganze Wissenschaft, und Aristoteles hat auch nicht immer recht. Die moderne europäische Sprachreflexion hat nämlich durch die Begegnung mit vielen verschiedenen Sprachen (die Griechen haben sich wenig für fremde Sprachen interessiert) festgestellt, dass das nicht so einfach ist, vor allem hatte sie erfahren, dass das Denken nicht unabhängig von der Sprache ist.

So war es nicht leicht, die Inhalte der christlichen Religion in die Sprachen der amerikanischen Indianer zu gießen. Das Denken hängt durchaus mit der Sprache zusammen, und das heißt allemal mit einer jeweils ganz bestimmten Sprache, weil Sprache sich nun einmal in der Verschiedenheit der vielen menschlichen Sprachen auf der Erde manifestiert. Die Welt wird den Menschen zunächst in einer bestimmten Sprache gegeben, die Menschen „denken“ die Welt in einer bestimmten Sprache. Wenn sie in eine andere Sprache übergehen, merken sie, dass dort die Welt anders gegeben ist. Deutsch „er singt“ ist einfach nicht dasselbe wie Englisch „he sings“ (denn es könnte ja auch „he is singing“ sein). „Schwein“ ist einfach nicht dasselbe wie „pig“ (es könnte ja auch „pork“ sein). Kurzum, Sprache ist nicht nur ein lautliches Werkzeug zum Kommunizieren, sondern ebenso sehr ein Medium des Denkens.

Es gibt wissenschaftliche Betätigungen, die nicht sprachlos Gedachtes, Gemessenes, Gewogenes und Berechnetes als wissenschaftliche Erkenntnis erzeugen, sondern die wissenschaftliche Erkenntnis in Sprache generieren. Wissenschaftliche Arbeiten in den sogenannten Geisteswissenschaften kommen nicht so zustande, dass der Forscher sich zuerst die Ergebnisse in seinem Kopf ohne Sprache denkt und diese dann nur noch bezeichnen und verlautbaren muss. Er generiert wissenschaftliche Erkenntnisse – oft über sprachliche Gegenstände – durch die Produktion von Texten im Schreiben. Er schafft also mit der Sprache einen völlig aus Sprache bestehenden Gegenstand. [ ] (gekürzt skd)

FAZ vom 1.4.2010 (Druckausgabe)

Der Autor ist Professor für europäische Mehrsprachigkeit an der Jacobs Universität Bremen.

Das könnte dich auch interessieren …

Schreibe einen Kommentar