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Die Schule hat ein Recht auf eine klare Sprache
Plädoyer für mehr Verlässlichkeit in der Rechtschreibung

Am 1. August werden an den Schweizer Schulen neue Rechtschreibregeln notenwirksam. Im folgenden Diskussionsbeitrag wird kritisiert, dass das Regelwerk immer noch widersprüchlich sei und im Gegensatz zur Orthographie eines Grossteils der Presse und der Verlage stehe. Gefordert wird deshalb ein Moratorium bis zur Einigung auf eine einheitliche Schreibweise.

Die Schülerinnen und Schüler der Schweiz haben ein Recht auf klare Spielregeln, auch in der Rechtschreibung. Da diese heute fehlen, ist ein Moratorium bis zur Einführung definitiver Rechtschreibregeln vernünftig; vertreten wird die Forderung unter anderen von der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK), das heisst von Vertretern massgeblicher Zeitungen und Agenturen, und vom Verband der Schweizer Fachjournalisten. Anders, als es die offiziellen Stellungnahmen wollen, ist die Lage noch nicht geklärt (vgl. NZZ vom 22. 7. 09).

Für einen Schlussstrich ist es zu früh

Ein Blick auf die verschiedenen Reformen und Gegenreformen seit 1996 zeigt zwingend, dass wir, so lästig das ist, noch keinen Schlussstrich unter die Auseinandersetzungen um die richtigen Schreibweisen ziehen können. Die Rücknahme der Fehlschreibung «es tut mir Leid» war zum Beispiel nur möglich, indem man während einiger Monate den grossen und den kleinen Buchstaben gelten liess (siehe Kasten). In diesem Zwischenstadium befinden sich jetzt Redewendungen wie «wir tun Recht/recht daran», «ohne Weiteres/weiteres» und zahllose Zusammensetzungen wie «wohlbekannt», bei denen die getrennte Form («wohl bekannt») absurderweise als Variante gilt. Unterscheidungen wie die von «gräulich» und «greulich» sind noch nicht wiederhergestellt.

Es sind besonders die angeblichen Varianten, die man dem Rat für deutsche Rechtschreibung vorwirft, einem überstaatlichen Gremium, das das reformierte Regelwerk konsensfähig machen sollte. Dass wir hier in einer Sackgasse sind, beweist der neue «Leitfaden zur deutschen Rechtschreibung» der schweizerischen Bundeskanzlei. Die Varianten machen politische und juristische Begriffe unklar; die Autoren des Leitfadens kämpfen mit diesem Problem und müssen schliesslich bekennen: «Notfalls – wenn gar kein Weg gangbar erscheint – muss die korrekte Rechtschreibung hinter der Rechtssicherheit zurückstehen.» Die Schule darf erst dann Noten geben, wenn diese Sackgasse verlassen ist.

Den Weg hat die Nationalratskommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur gewiesen. Sie verlangte im Herbst 2004, dass die Bedeutungsdifferenzierungen, die durch die Reform beseitigt worden waren, erhalten bleiben. Dasselbe Anliegen vertrat Nationalrätin Kathy Riklin in einem Postulat, das Vertreter aller Parteien unterzeichneten. Der Bundesrat hat das Postulat positiv beantwortet – umgesetzt ist es bis heute nicht.

Was gilt jetzt, was galt bis vor kurzem?

In den letzten 13 Jahren ist so viel eingeführt und zurückgenommen worden, dass Schüler und Lehrer gar nicht mehr wissen können, was galt und was gilt. Das aber ist Voraussetzung für eine korrekte Beurteilung von Schülerleistungen. In der neuesten Zentralschweizer Musterprüfung müssen die Kandidaten antworten, dass «abwärts fahren» getrennt zu schreiben sei. Das stimmt nicht mehr. Im Duden 2004 lautet die Regel zwar: «Man schreibt abwärts immer getrennt vom folgenden Verb.» Im Duden 2006 aber steht: «Man schreibt abwärts als Verbzusatz mit dem folgenden Verb zusammen.» Noch lange Zeit wird man sich widersprechende Wörterbücher und Lehrmittel nebeneinander verwenden. Werden die Bereiche der Reform benotet, kommt es weiter zu ungerechtfertigten Punkteabzügen. – Das Referenzwerk der Schule, der «Schweizer Schülerduden», zementiert die Unsicherheit. Dass ein Referenzwerk vorgelegt wird, war eine der Bedingungen, unter welchen die Geschäftsleitung des Dachverbandes der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH) ihren Widerstand gegen die Vorschläge des Rates für deutsche Rechtschreibung aufgab. Zunächst hatte sie sie mit ausführlicher Begründung «vollumfänglich» zurückgewiesen. Schüler und Lehrer brauchen heute eine Zusammenstellung aller vom neuesten Regelwerk gestatteten Schreibweisen. An der Arbeit des Rates muss man anerkennen, dass er den Abstand zur Rechtschreibung, in welcher unsere moderne Literatur vorliegt, verringert hat. Diese Rechtschreibung der Literatur begegnet den Schülern in vielen Klassenlektüren und Zeitungen, und auch deshalb sind sie darauf angewiesen, alle zugelassenen Schreibweisen zu kennen.

Unzuverlässiger Schülerduden

Nun traf aber eine Gruppe von Schweizer Rechtschreibräten um den Reformer Peter Gallmann den verhängnisvollen Entscheid, die Schweizer Schule möglichst nahe an den Grundsätzen der Reform zu halten. Folgerichtig werden im Schülerduden zahlreiche herkömmliche Schreibweisen unterschlagen. Redewendungen wie «seit Langem» müssen gemäss einer Regel des Schülerdudens gross geschrieben werden, ebenso Superlative vom Typ «aufs Schönste», obwohl laut dem Regelwerk des Rates auch der kleine Buchstabe richtig ist. In der Zentralschweizer Musterprüfung wird der kleine Buchstabe bei diesen Superlativen als falsch bewertet. Andererseits hält der Schülerduden an Schreibweisen fest, die seit 2006 nicht mehr gültig sind: «Pleite gehen», «etwas ist Not».

Die Schweizer Schule im Abseits

Der Rat für deutsche Rechtschreibung hat kürzlich eine erste Untersuchung zur Rechtschreibung von Schülern vorgelegt. Einbezogen war auch eine Schweizer Klasse. In der Auswertung wird ausdrücklich die «Sprachintuition» der Kinder gerühmt, da diese «kennenlernen» mehrheitlich als ein Wort schrieben. Diese herkömmliche, unterdessen wieder mögliche Schreibweise gibt es im Schweizer Schülerduden nicht, es gibt nur «kennen lernen». Schüler, die im Sinne des Rates «sprachintuitiv» schreiben, riskieren deshalb einen Punkteabzug. Wer die Schule notenwirksam auf ein Regelwerk verpflichten will, muss es ihr vollständig zur Verfügung stellen. Es geht nicht an, dass Schweizer Mitglieder des Rates eine eigensinnige und fehlerhafte Auswahl treffen.

Auch ein Referenzwerk, das die geltenden theoretischen Grundlagen erläutert, fehlt. Ein entspre-chendes Werk, das «Handbuch Rechtschreiben», wird heute noch in der Fassung des Jahres 1996 verkauft.

In dieser unsicheren Lage steht an erster Stelle der Schutz der Schüler vor Willkür. Die Schule darf das, was der Rat für deutsche Rechtschreibung jetzt beobachtet und zu bewerten versucht, nicht benoten. Da Schüler und Lehrer denkende Wesen sind, hätten sie Anspruch auf eine klare Beurteilung dieser Reform: ihres Verlaufs, des Standes der Dinge und der Aussichten. Abgeschlossen ist jetzt noch nichts. Ein Moratorium ist nötig.

Von Stefan Stirnemann. NZZ 29. Juli 2009

Der Autor ist Lehrer am Gymnasium Friedberg in Gossau (Kanton St. Gallen) sowie Mitglied der Arbeitsgruppe der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK).

Der Leidensweg von «Es tut mir leid»

– «Adelungs Vollständige Anweisung zur Deutschen Orthographie», 1791: Es tut mir leid.

– Neuregelung von 1996: Es tut mir Leid.

– Bericht der Kommission für Rechtschreibung, 2001:

«Die Sprachgemeinschaft hat sich nach anfänglichem Zögern an die Schreibung Leid tun mit substantivischer Interpretation von Leid gewöhnt. Eine neuerliche Änderung verunsichert unnötig und bringt die Wörterbuchverlage in Schwierigkeiten»

– Pressemutteilung der deutschen Kultusministerkonferenz, Juni 2004:

«Für den Fall Leid tun wird die neue zusätzliche Variante leidtun eingeführt.

Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass sich eine eindeutige Entscheidung für adjektivischen Gebrauch und substantivischen Gebrauch nicht treffen lässt.»

– Der Rat für deutsche Rechtschreibung am 8. April 2005: Es tut mir leid.

Von Stefan Stirnemann

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