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Vom lieblosen Umgang mit der deutschen Sprache

Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Joachim Meyer

Vortrag auf der Tagung des Fachverbandes Deutsch im Deutschen Germanistenverband, Landesverband Niedersachsen/Bremen (18. Aug. 2009)

Es war Johannes Rau, der gesagt hat, wir Deutschen würden mit unserer Sprache lieblos umgehen. Das mag eine sehr unzeitgemäße Art sein, unser Verhältnis zu einer Sprache zu beschreiben. Denn das Wort „lieblos“ ist emotional und zeugt von wenig Interesse an der Nützlichkeit, welche heutzutage als wichtigstes Kriterium für alles und jedes gehandelt wird. Liebe zu einer Sprache zu erwarten, widerspricht auch der heute vorherrschenden Sicht von Sprache als einem Instrument. Und schließlich klingt „lieblos“ nicht nach jener Rationalität, auf die wir so stolz sind und die angeblich allein unsere moderne Zeit bestimmt. Gerade deshalb halte ich Raus Wort vom lieblosen Umgang für so treffend. Denn Instrumente liegen außerhalb unserer personalen Existenz. Sie bleiben außen vor, sie sind austauschbar, sie berühren uns letztlich nicht. Genau das aber gilt nicht für eine Sprache. Sprache ist eben nicht nur die äußere Hülle unserer Gedanken, Gefühle, Erinnerungen und Erfahrungen. Sondern diese sind gleichsam in Sprache eingeschmolzen, haben diese damit aber auch geprägt und aufgeladen. Wir begegnen uns selbst und unserem Leben in unserer Sprache. Und wenn durch Zwang und äußere Umstände diese Verbindung gestört oder aufgelöst wird, so kann dies einen Menschen treffen und lebenslang verwunden. Der Emigrant Heinrich Heine hat im Kaput I seines Gedichtes „Deutschland, ein Wintermärchen“ beschrieben, was er empfand, als er nach mehr als zehn Jahren das ihm liebgewordene Frankreich trotz aller Erfolge verließ, um seine deutsche Heimat zu besuchen:

Im traurigen Monat November war’s,

Die Tage wurden trüber,

Der Wind riss von den Bäumen das Laub,

Da reist’ ich nach Deutschland hinüber.

Und als ich an die Grenze kam,

Da fühlt’ ich ein stärkeres Klopfen

In meiner Brust, ich glaube sogar,

Die Augen begannen zu tropfen.

Und als ich die deutsche Sprache vernahm,

Da ward mir seltsam zumute:

Ich meinte nicht anders, als ob das Herz

Recht angenehm verblute.

Gewiss: Heine ironisiert sein Heimweh, aber er nimmt es nicht zurück. Und auf seinen Anspruch, „ein deutscher Dichter, bekannt im deutschen Land“ zu sein, hat er nie verzichtet.

Wer sich heute in Deutschland bewegt, stößt ständig auf Menschen und Institutionen, denen nichts wichtiger zu sein scheint, als auf ein Bekenntnis zur deutschen Sprache demonstrativ zu verzichten. Wenn etwas als modern, innovativ, weltoffen und kreativ charakterisiert werden soll, so geschieht dies in Englisch.In Frankfurt am Main, so las ich in einer katholischen Kirchenzeitung, gibt es am Sonntagabend eine „Moonlightmass“. Die politische Führung der deutschen Hauptstadt meint, ein urbanes Identitätsgefühl stiften zu können, indem sie plakatiert: „Be Berlin!“ – was immer das heißen mag. In unserer „Hallo“- und „Happy Birthday to you“- Gesellschaft muss Neues durch Englisch signalisiert werden. Künstler geben ihren Kunstwerken englische Titel, zu Weihnachten gibt es Christmas-Concerts, neue Initiativen oder Feste müssen natürlich mit Englisch locken, Kioske und Friseure preisen sich in Englisch an, Produkte und Dienstleistungen bemühen ein Phantasieenglisch, auch Stellenangebote von Deutschen für Deutsche erscheinen zunehmend im mehr oder weniger richtigem Englisch. Inzwischen hat die Allgegenwart dieses Angeberenglischs zu einer Art Pawlowschem Reflex geführt: Braucht man einen Namen oder ein Motto, so greift man wie selbstverständlich zum Englischen. Ja, selbst wenn es noch ein deutsches Leitwort gibt, muss dies anglisiert werden. Als 2004 der Katholikentag in Ulm unter dem Leitwort „Leben aus Gottes Kraft“ stand, gab es Leute, die allen Ernstes dies durch „Got(t) the Power“ ersetzen wollten, weil dies jugendgemäßer sei. Dass dies an einen fast gleichen Werbespruch erinnert oder auch an die schöne Liedzeile „Got the fucking power“, wurde immerhin als Einwand zur Kenntnis genommen. Allerdings beantwortet dieses Beispiel noch nicht die Frage, wer in dieser Wechselwirkung die treibende Kraft ist – die Jugendlichen oder die Werbefuzzis?

Ich könnte in dieser Situationsbeschreibung noch stundenlang fortfahren, was aber schon deshalb überflüssig ist, weil jeder von Ihnen sie mit eigenen Beispielen ad infinitum ergänzen könnte. Fraglich scheint mir allerdings, ob die Missachtung und Ablehnung unserer eigenen Sprache mit Begriffen wie „rational“ oder „instrumental“ hinreichend erklärt werden kann. Vielmehr verspüren doch offenbar viele Deutsche ein inneres Bedürfnis oder einen öffentlich wirksamen Druck, sich von ihrer eigenen Sprache zu distanzieren, jedenfalls wenn sie sich selbst als tolerant, modern und weltoffen darstellen wollen. Und die Tiefe und das Ausmaß eines solchen Verhaltens unterscheiden Deutschland, wie sich unschwer beobachten lässt, von unseren europäischen Nachbarn, obwohl es auch dort solche Tendenzen gibt. Was könnten die Gründe sein für dieses abartige Verhalten vieler Deutscher?

In seinem lesenswerten Buch „Was ist Sprache?“ meint der Berliner Romanist Jürgen Trabant, durch die europaweiten Verbrechen der Nazis sei Deutsch heute in der gesamteuropäischen Erfahrung „gar keine gesprochene, sondern eine gebellte Sprache.“ Und er fügt hinzu: „Das im Krieg und in den Konzentrationslagern gebrüllte Deutsch hat die Stellung dieser Sprache in der Welt, aber auch in der eigenen Sprachgemeinschaft bleibend beschädigt.“ Nun ist Jürgen Trabant nicht irgendwer in der deutschen Sprachwissenschaft. Sein Buch „Mithridates im Paradies“ ist nicht nur eine eindrucksvoll kundige Geschichte des Sprachdenkens, sondern auch ein sprachlich schönes Buch, was man von gelehrten Werken bekanntlich nicht immer sagen kann. Vor allem aber äußert er sich immer wieder als ein ebenso kompetenter wie streitbarer Verfechter einer europäischen Multilingualität und als ein eindringlicher Warner vor einem nivellierenden gesichtslosen Englisch als Globalesisch der Zukunft. Nichts läge ihm also ferner, als den Abschied von der deutschen Sprache zu betreiben. Und doch klingt es rechtfertigend, wenn er schreibt: „Die Deutschsprecher sind von dem großen Verbrechen traumatisiert, dessen sprachliches Medium die deutsche Sprache war.“

In allem Respekt gesagt: Als Ostdeutscher halte ich das für ein für ein typisch westdeutsches Urteil. Und als jemand, der 1936 geboren wurde, sage ich zu Jürgen Trabant als einem Angehörigen des Jahrgangs 1942: So etwas kann man nur sagen unter dem Einfluss von 1968. Das sind, wie ich sehr wohl weiß, zwei kräftige Behauptungen. Was sind nun meine Argumente?

Erstens: Man muss der DDR gewiss eine ideologisch einseitige und interessegeleitete Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vorwerfen, aber keine Strategie des Vergessenwollens und der Schönfärberei der nazistischen Verbrechen. Und was den bis 1989 unter sowjetischer Vorherrschaft stehenden östlichen Teil Europas anbetrifft, so kann an einem nicht der geringste Zweifel bestehen: Dort gab es die weitaus größte Zahl von Opfern des von den Nazis entfesselten Krieges und der nazistischen Verbrechen. Zwar findet man in der kommunistischen Emigrantenliteratur aus der Kriegszeit Beispiele, dass damals von Einzelnen in diesen Ländern Deutsch als die Sprache Hitlers bezeichnet wurde. Dennoch ist es dort weder im Krieg noch nach dem Krieg und schon gar nicht in den folgenden Jahrzehnten zu einer generellen Abwertung der deutschen Sprache gekommen.

Gewiss: Russisch war die offizielle Sprache des Warschauer Paktes und des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe. Und nach dem Willen einiger ideologisch besonders Verrückter sollte Russisch in der DDR, wie sie sagten, „die zweite Muttersprache“ werden. Ja, man könnte sogar Einflüsse des Russischen auf DDRtypische Ausdrücke und Bezeichnungen nachweisen. Gleichwohl behielt Deutsch in der Sowjetunion wie in Mittelost- und Südosteuropa im Schulwesen und im Bildungsverständnis eine führende Stellung. Und es blieb auch die Achtung vor der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte. Aus meinem Semester als stažer (neudeutsch: post-doc) an der Moskauer Lomonossow-Universität im kalten Frühjahr 1979 habe ich noch in Erinnerung, wie sorgfältig ein russischer Germanist bei seinen Studenten beim Vortrag eines deutschen Gedichts auf den präzisen Beginn der Vokale achtete. Es ist dies bekanntlich eben jener Knacklaut, englisch: glottal stop, den Charlie Chaplin in seinem Film „Der große Diktatur“ zum Karikieren des Deutschen verwendet. Davon klang in Moskau nichts an. Als ich 1988 in der Moskauer Maurice-Thorez-Hochschule für Fremdsprachen war, wurde dort die deutsche Literatur nach 1945 immer noch als ein großes Fach präsentiert, wohingegen sie in der DDR unter Honecker aus ideologischen Gründen längst in die Literatur der Bundesrepublik und die Literatur der DDR säuberlich geschieden wurde. Übrigens war Deutsch zu diesem Zeitpunkt an vielen britischen Universitäten ohnehin schon abgeschafft oder kurz vor dem Aussterben.

Im östlichen Teil Europas hätte es nach 1990 große Chancen für die deutsche Sprache gegeben, aber in diesem Punkte war die Politik der nun gesamtdeutschen Bundesrepublik ideologisch borniert, kleinkrämerisch und feige. Als 1990 Jacques Delors dem polnischen Ministerpräsidenten Mazowiecki bei einer Presskonferenz in Brüssel über den Mund fuhr, weil dieser deutsch sprach, regte sich in der Bundesrepublik kein Protest.

Zweitens: Gewiss hat Jürgen Trabant recht, wenn er darauf hinweist, dass eine endlose Zahl von englischen und amerikanischen Kriegsfilmen, „das deutsche Gebell“ wie eine „mediale Endlosschleife“ ständig präsent hält. Aber das ist eine typische Westerfahrung. Dort, wo viele Menschen dieses Kommandogebell real gehört haben, und dies meist in Verbindung mit Angst und Schrecken, nämlich im östlichen Teil Europas, gibt es die Gleichsetzung von Deutsch mit Gebell nicht. Denn dort blieb trotzdem das Bewusstsein lebendig, dass die Nazidiktatur nicht mit Deutschland identisch war. Und dass sie sich auch nicht notwendig aus der deutschen Geschichte ergab. Ein Buch wie das bald nach Kriegsende erschienene des SED-Kulturideologen Alexander Abusch vom „Irrweg einer Nation“ war sogar in der DDR bald vergessen, obwohl es zu Honeckers Zwei-Nationen-These gut gepasst hätte.

Drängt sich da nicht die Frage auf, ob es neben der „medialen Endlosschleife“ in der englischsprechenden Welt nicht auch so etwas wie eine bundesdeutsche Prädisposition gab oder gibt, sich mit nichts mehr zu identifizieren, was deutsch ist oder deutsch klingt? Und ist dies nicht eine kulturre-volutionäre Folge von 68 und danach? Unbestreitbar war eine radikale und prinzipielle Auseinandersetzung mit der verbrecherischen Nazi-Herrschaft und mit allem, was dazu geführt hatte, in der Bundesrepublik dringend notwendig und überfällig. Zu rasch war im Westen die Auseinandersetzung mit dem Naziregime beendet worden. Und die Neigung, die Zeit von 1933 bis 1945 nur als einen Betriebs-unfall der deutschen Geschichte zu betrachten und darum auch rasch zu verdrängen, war durchaus einflussreich. Eine Zäsur wie die von 68 war also notwendig. Aber das rechtfertigt nicht, wie dann häufig diese notwendige Auseinandersetzung mit der Nazi- Vergangenheit betrieben wurde – als irrationaler Generationenkonflikt mit den Eltern und Lehrern als Tätern, als pauschale Abkehr von der deutschen Geschichte und nicht zuletzt als Verdächtigung und Bedrohung der freiheitlichen Demokratie als „Schweinesystem“. Aus der Auseinandersetzung mit der negativen Erblast folgte also keine Aneignung der deutschen Humanitäts- und Freiheitstradition, sondern weithin pauschale Verdächtigung und Ablehnung der deutschen Geschichte überhaupt. Auch der spätere Versuch, die Bundesrepublik als postnationalen Staat mit ein bisschen kostenlosem Verfassungspatriotismus einzurichten, und uns (d.h. uns in der DDR) die deutsche Teilung als verdiente Strafe der Geschichte zu präsentieren, zeugte nicht gerade von geschichtlichem Wirklichkeitssinn. Manchen ist es wohl auch bequem, ihr Land in ständigem Generalverdacht zu halten, denn dann ist man ihm auch nichts schuldig und kann sich ungestört seiner Selbstverwirklichung hingeben.

Die Folgen solcher mentalen Entwicklungen konnte ich dann ab 89 in persona erleben: Den professoralen Kollegen, der sich als Schaumburg-Lipper sah und natürlich als Europäer, aber der sich um Gottes Willen nicht als Deutscher verstehen wollte. Die jüngeren Akademiker, für die es stehende Rede war und oft noch ist, zu Deutschland doch ein eher distanziertes Verhältnis zu haben. Und die dies dann auch noch als eine Art antinazistischen Widerstand präsentieren, den man jetzt gleichsam in effigie nachholt. Was hätten wohl die Frauen und Männer des deutschen Widerstandes gegen die Nazibarbarei zu solchen Nachfahren gesagt? Ihr Selbstverständnis war es, die deutsche Freiheits- und Humanitätstradition gegen Verbrecher und Narren zu verteidigen und ihnen eben nicht die deutsche Geschichte zu überlassen. In der Endphase der alten Bundesrepublik war es dagegen für einen beträchtlichen Teil des Meinungsspektrums Konsens, deren Wurzeln nur in der Schande von Auschwitz zu sehen und nicht, zum Beispiel, in der Revolution von 1848. Noch 1998 wusste ein einflussreicher Teil des Meinungsspektrums mit deren Jubiläum nicht allzu viel anzufangen. Gibt es also nicht viele Gründe, in der hochideologisierten Haltung vieler Deutscher und vor allem vieler mei-nungsbildender Deutscher das entscheidende Motiv zu sehen für ihre Abkehr von der deutschen Sprache?

Nun liegt es mir völlig fern, so etwas Jürgen Trabant vorzuwerfen. Denn seine Haltung ist geprägt von Trauer über den Niedergang des Deutschen. Und er ist voller Zorn darüber, dass, wie er in einem Leserbrief an die FAZ schrieb, „ein immer größerer Teil der jungen Bourgeoisie, die sich als Elite versteht (oder zu dieser aufsteigen will), glaubt, die gesellschaftliche Stellung ihrer Kinder nur unter Aufgabe des Deutschen als Kultur- und Bildungssprache verteidigen zu können“. Dieses Problem hat, wie Trabant betont, zwei Seiten: „Während sich auf der einen Seite der gesellschaftlichen Skala ein erklecklicher Anteil der Menschen als unfähig oder unwillig erweist, in die deutsche Sprachgemeinschaft einzutreten, investiert das obere Ende der Gesellschaft erhebliche Mittel und Anstrengungen in den Ausstieg aus der deutschen Sprachgemeinschaft.“

Damit führt uns Jürgen Trabant selbst zum zweiten Argument gegen die These, das mangelnde Ansehen der deutschen Sprache sei wesentlich durch die Schande der Nazizeit bedingt. Während nämlich auf der linken Seite des Meinungsspektrums immer noch einige glauben, ihren Abscheu vor allem Deutschen zelebrieren zu müssen, ist man auf der rechten Seite längst dazu übergegangen,sich möglichst amerikanisch anzuziehen und, wie es Thomas Middelhoff schon früh proklamierte, zum Amerikaner mit deutschem Pass zu werden. So spinnefeind sich diese beiden Varianten des bundesdeutschen Selbstbildes auch sind, so wirken sie doch faktisch in die gleiche Richtung, nämlich der Verdrängung des Deutschen, dem Vergessen der deutschen Geschichte in ihrer Komplexität und der Banalisierung der deutschen Kultur, ja, dem ausdrücklichen Verzicht auf diesen Begriff.

Man konnte diese Entwicklung schon bald nach 1990 beobachten. Was zunächst im Vordergrund des öffentlichen Interesses stand, war die linke Sorge, das vereinigte Deutschland würde nun bald wieder nationalem Größenwahn verfallen. Dafür gab es zwar weder überzeugende Hinweise noch tatsächliche Möglichkeiten, aber welches Argument zählt schon gegen Hysterie. Ich entsinne mich, dass Anfang der neunziger Jahre der neu aus dem Westen berufene Direktor der Dresdner Gemäldegalerie „Neue Meister“ ein Bild erwarb, welches auf schwarzem Grund die weiße Schrift zeigt „Deutschland wird deutscher“, was offenbar als Warnung zu verstehen war. Als verfassungstreuer Minister äußerte ich mich nicht zur künstlerischen Qualität der Neuerwerbung und will das auch jetzt nicht nachholen. Aber ich verstand doch als Motiv des Galeriedirektors die Sorge vor dem raschen Anstieg rechtsradikaler Gewalt. Die Anführer und Anstifter kamen zwar fast ausnahmslos aus dem Westen, aber sie fanden doch im Osten bereitwillige Täter. Und es war wichtig, dass die Rechtsextremisten bald auf entschlossene Gegenwehr stießen. In diesem Sinne konnte ich auch mit diesem Bild leben. Und die Warnung vor rechtsextremistischer Gefahr bleibt aktuell.

Erst allmählich wurde mir eine ganz andere Tendenz deutlich, dass sich nämlich die Bundesrepublik, der wir beigetreten waren, mit zunehmender Geschwindigkeit in eine Richtung bewegte, die man vergröbernd als „amerikanisch“ oder, mit Jürgen Trabant, als „globalesisch“ bezeichnen konnte, also weg vom Sozialstaat und weg vom sogenannten rheinischen Kapitalismus. Jetzt, da die kommunisti-sche Gesellschaftskonkurrenz verschwunden war, konnte und wollte man sich ganz der heraufkommenden Globalisierung zuwenden. Das bedeutete nach vorherrschender Auffassung, sehr viel mehr Markt und sehr viel weniger Staat, also möglichst ungebremster Wettbewerb und darum Deregulierung und Privatisierung. Als großes Vorbild dafür dienten und dienen selbstverständlich die USA.

Nun sind die USA zweifellos die überragende Weltmacht in Wirtschaft und Wissenschaft, sie sind, trotz Krisen, eine stabile und vitale Demokratie. Und alle Deutschen, denen Freiheit und Einheit (oder auch nur ihre Freiheit) etwas bedeutet, sind den USA zu großer Dankbarkeit verpflichtet. Amerika und Europa verbindet ein gemeinsames Freiheitsideal. Allerdings ist ebenfalls wahr, dass sich das amerikanische Gesellschafts- und Staatsverständnis in vielem von dem des westlichen kontinentalen Europas fundamental unterscheidet. Und es ist völlig unrealistisch anzunehmen, dieses in mehr als vier Jahrhunderten gewachsene Gesellschafts- und Staatsmodell der USA könnte in das kontinentale Westeuropa verpflanzt werden und die dort noch viel länger gewachsene politische und soziale Kultur ersetzen. Überdies ist fraglich, ob diejenigen, die in der Bundesrepublik dieses marktradikale Projekt betreiben, eine realitätsnahe Vorstellung von den USA haben und ob sie das höchst komplexe Miteinander und Ineinander von Individualismus, Kommunitarismus, Patriotismus und Philantropismus wirklich begreifen wollen.

Gleichwohl ist es ihr Ziel, Deutschland zu einem Teil des englischen Sprachraums und des American way of life zu machen, weil sie sich davon für sich selbst Vorteile im globalen Wettbewerb versprechen. Und das bedeutet selbstverständlich, dass Englisch in Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung und Kultur auch in Deutschland die beherrschende Sprache zu sein hat und Deutsch allenfalls noch im persönlichen und familiären Bereich eine gewisse Rolle behalten darf. Dieses Ziel wird von Mächtigen in Wirtschaft und Wissenschaft ganz systematisch und auch unter Einsatz von Zwang verfolgt, mit vielen Helfern in der Bildung, in den Medien und in der Kultur und unterstützt von der großen Schar von Opportunisten, die sich bekanntlich immer bei den Mächtigen versammelt.

Inzwischen macht man öffentlich gar keinen Hehl aus seinem Ziel, Englisch in Deutschland als die erste Sprache durchzusetzen. Das hindert aber deutsche Sprachwissenschaftler nicht daran, die Bedrohung des Deutschen zu leugnen oder linguistisch schönzureden. Da wird erklärt, gegen Fremdwörter zu sein, sei lebensfremder Purismus. Tatsächlich ruft jedoch so gut wie niemand nach sprachlichem Purismus, sondern Menschen sind empört, dass durch öffentlich privilegierte Unternehmen wie Bahn, Post und Fluglinien flächendeckend deutsche Begriffe durch englische Begriffe ersetzt werden oder dass in mit deutschen Steuergeldern finanzierten Einrichtungen Mitarbeitern und Studenten der Gebrauch des Englischen vorgeschrieben wird. Die Realität der systematischen Verdrängung des Deutschen wird gleichwohl ignoriert, weil diesen linguistischen Ideologen an der deutschen Sprache demonstrativ nichts liegt. Zur Beschwichtigung dienen dann solche Legenden wie die, man könne auf die Entwicklung einer Sprache keinen Einfluss nehmen oder die Sprache entscheide selbst, was sie aufnehme und was sie wieder ausscheide. So etwas wie Eigenbewegung von Sprache gibt es sicherlich bei Lautung, Rhythmus und Akzentsetzung, nicht aber bei der Lexik. Denn welche Wörter, Begriffe und Redewendungen verwendet werden, das entscheidet die Mehrheit der Sprechergemeinschaft. Die schlichte Wahrheit ist, dass die deutsche Sprache nach dem Dreißigjährigen Krieg dem Französischen erlegen wäre, hätte es nicht Menschen und Institutionen gegeben, die sich entschieden für die deutsche Sprache eingesetzt hätten. Hohn über die Sprachgesellschaften ist allemal wohlfeil. Was wäre denn unsere heutige Begriffssprache ohne solche vom Hallenser Aufklärer Christian Wolff geschaffenen Wörter wie: Anmerkung, Aufgabe, Ausnahme, Aussage, Begriff, Eigenschaft, Einbildungskraft, Erklärung, Grundsatz, Lehrsatz. Alles Wolffsche Neuschöpfungen, um lateinische Begriffe zu ersetzen. Oder will man Lessing Deutschtümelei oder gar Nationalismus vorwerfen, weil er in seinem Einsatz für das Deutsche gegen das damals übermächtige Französische in seiner Hamburgischen Dramaturgie schrieb:

„Wir sind noch immer die geschworenen Nachahmer alles Ausländischen, besonders noch immer die untertänigen Bewunderer der nie genug bewunderten Franzosen; alles was uns von jenseits dem Rheine kömmt, ist schön, reizend, allerliebst, göttlich; lieber verleugnen wir Gesicht und Gehör, als dass wir es anders finden sollten; lieber wollen wir Plumpheit für Ungezwungenheit, Frechheit für Grazie, Grimasse für Ausdruck, ein Geklingle von Reimen für Poesie, Geheule für Musik uns einreden lassen, als im geringsten an der Superiorität zu zweifeln, welche dieses liebenswürdige Volk, dieses erste Volk der Welt, wie es sich selbst sehr bescheiden zu nennen pflegt, in allem, was gut und schön und erhaben und anständig ist, von dem gerechten Schicksale zu seinem Anteile erhalten hat.“

Man ersetze „Französisch“ durch „Englisch“ oder noch besser durch „Amerikanisch“ und modernisiere leicht Wortwahl und Satzbau; dann erhält man einen höchst aktuellen Kommentar zur deutschen Sprachsituation. Zur Sprachgeschichte gehören stets auch Konflikte innerhalb der Sprachgemeinschaft, in denen sich die Frage nach der Sprachloyalität stellt. Wie nicht zum ersten Mal in der Geschichte erweisen sich heute viele Deutsche gegenüber ihrer Sprache als gewollt illoyal. Johannes Rau hatte also recht, als er den Umgang der Deutschen mit ihrer Sprache als „lieblos“ bezeichnete. Denn es ist die innere Haltung der Deutschen, die sie ihrer Sprache entfremdet. Und diese Haltung kann man zwar rational analysieren, aber nicht rational begründen. Eine solche Haltung ist um so gravierender, als die Realität der globalen Kommunikation ja tatsächlich die deutsche Sprache vor große Herausforderungen stellt. Die beiden wichtigsten Herausforderungen, auf die ich im Folgenden eingehen will, ergeben sich aus der europäischen Integration im Kontext der Globalisierung und aus der internationalen Verflechtung der Wissenschaft.

Europa wird auf Dauer als Handlungsgemeinschaft nur bestehen können, wenn es sich seiner verbindenden kulturellen Identität stärker bewusst wird. Kultur und Sprache stehen in einer engen Beziehung. Zur Identität Europas gehört aber nicht nur das Gemeinsame in der kulturellen Vielfalt, sondern nicht weniger seine Multilingualität. Wie auch in seiner bisherigen Geschichte kann Europa seine Multilingualität nur praktisch leben, wenn darin drei oder vier Sprachen eine hervorgehobene Rolle spielen. Welche europäischen Sprachen kämen dafür in Frage? Die vier Sprachen mit den meisten muttersprachlichen Sprechern in der Union sind bekanntlich Deutsch mit knapp 100 Millionen Sprechern sowie Italienisch, Französisch und Englisch mit jeweils etwa 60 Millionen Sprechern. Mit etwa 40 Millionen Sprechern folgt das Spanische, dessen nationaler Anspruch derzeit zwar von Regionalsprachen bestritten wird, das aber zugleich eine international führende Sprache ist, die das Englische in den USA erfolgreich herausfordert. Die Bedeutung des Englischen ergibt sich also aus seiner globalen Rolle, jedoch nicht aus der europäischen Konstellation. Ungeachtet dieser sprachlichen Realität in Europa ist es für die meisten in Deutschland eine längst ausgemachte Sache, dass allein Englisch die europäische Gemeinsprache sein kann. Jürgen Trabant hat in seinem von mir schon erwähnten Buch „Was ist Sprache?“ (S. 192) drei gewichtige Argumente genannt, die dagegen sprechen. Im Folgenden seien sie – stark verkürzt – angeführt und zitiert:

„Erstens: Das Englische ist als globale Sprache keine europäische Sprache. Es bringt für Europa nicht das, was Sprachen sonst für ihre Sprecher bringen, nämlich Identität. … Es geht ja ausdrücklich über Europa hinaus, es ist die Sprache der Welt, nicht die Sprache Europas.“

„Zweitens …: Das Englische ist die Muttersprache der Bevölkerung eines großen (und eines kleineren) Landes in diesem Europa, und dies verschafft denen, die Englisch als Muttersprache haben, ein ausgesprochen ungerechtes Privileg.“ „Die Bevorzugung anglophoner Muttersprachler auf dem europäischen Arbeitsmarkt ist manifest. Nicht-anglophone Wissenschaftler erleben die ungerechte Privilegierung anglophoner Muttersprachler auf internationalen Kongressen, bei der Publikation von Artikeln und Büchern.“

„Dritter Nachteil: Dieses globalesische Englisch ist ein ‚Sprachenkiller‘, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Erstens verhindert es den Erwerb anderer Fremdsprachen.“ Zweitens bedroht es durch Anglizismen „die anderen Sprachen in ihrem Innern“, wenn auch in unterschiedlichem Maße; denn diese Bedrohung ist vor allem ein Problem des Deutschen. Und jetzt zitiere ich Trabant ungekürzt: „Kaum eine andere Sprache wird derzeit so mit englischen Wörtern vollgeschüttet wie das Deutsche, von Werbeagenturen, Politikern, flotten Wissenschaftlern und Journalisten, also von den Sprechern, die das Sagen haben und die ganz offensichtlich diese Sprache hassen oder zumindest verachten (anders kann man sich die Vehemenz und Aggressivität dieser Entwicklung hierzulande nicht erklären).“ Drittens (und jetzt referiere ich wieder) reduziert das globalesische Englisch „die Gebrauchsdomänen“ und damit „den Ausbau“ der anderen europäischen Sprachen, vor allem um die „prestigereichen Domänen des Sprechens“. „Die oberen, prestigereichen Diskurse (Wissenschaft, Geschäftswelt, Business, internationale Politik etc.) bespricht man im globalen Englisch, und für die alltäglichen, ‚unteren‘ Diskurse bleiben die Nationalsprachen bzw. Volkssprachen. Diese bekommen damit zunehmend den Status, den früher die Dialekte und Regionalsprachen hatten … gegen die sie kaum eine Chance haben.“

Die Situation des Deutschen in Europa ist also widersprüchlich: Einerseits entspräche es dem kulturellen Selbstverständnis Europas, auf eine Multilingualität zu setzen, die sich wiederum auf drei bis vier große europäische Sprachen stützt. In einer solchen Konstellation hätte Deutsch durchaus eine Chance, und zwar nicht nur als die größte Sprechergruppe in der EU, sondern nicht minder, weil auch andere wichtige Sprachen an einer europäischen Multilingualität interessiert wären und darum potentielle Verbündete sind. Andererseits gibt es in Deutschland so gut wie kein kulturelles Bewusstsein und keinen politischen Willen, gemeinsam mit anderen europäischen Ländern auf eine solche Kon- stellation hinzuwirken. Soweit zur europäischen Herausforderung.

Die zweite Herausforderung ergibt sich aus der gestiegenen Bedeutung der internationalen Kommunikation für die Wissenschaft, verbunden mit der objektiv starken, aber auch aktiv und nicht selten aggressiv vertretenen Führungsposition der USA. Tatsächlich wird die internationale wissenschaftliche Kommunikation heute vom Englischen dominiert. Oft kann man daher hören und lesen, heute sei Englisch nun einmal die Lingua franca wie im Mittelalter das Latein. Ein solcher Vergleich ist aus geschichtlichen wie aus linguistischen Gründen schlicht falsch. In der Tat war Latein im Mittelalter die Sprache der Kirche, der Gelehrten, der Gerichte und der Politik. Mithin war Latein damals die europäische Sprache der Erkenntnis und des geistigen Fortschritts. Etwa zur gleichen Zeit verwendeten Seeleute und Kaufleute im östlichen Mittelmeerraum, um sich bei Geschäften und gemeinsamen Arbeitshandlungen zu verständigen, einen mit griechischen und arabischen Elementen versetzten italienischen Dialekt. Und dieses Idiom wurde damals als Lingua franca bezeichnet. In der Dürftigkeit seines lexikalischen Materials und in der Schlichtheit seiner Strukturen wird dieses Idiom dem heute weltweit benutzten Bad Simple English (BSE) durchaus vergleichbar gewesen sein. Jedenfalls lieferte sein Name später den linguistischen Begriff für den weltweit zu findenden Typ grenzüberschreitender Verkehrssprachen. Diese Verkehrssprachen sind durch zwei wesentliche Merkmale charakterisiert: Sie sind auf die kommunikativen Zwecke des Informationsaustausches eingeschränkt, und für diesen kommt ein im Vergleich zur Ausgangssprache reduziertes Sprachmittelinventar zum Einsatz.

Mithin ist auch das heute in der internationalen Kommunikation der Naturwissenschaften verwendete Englisch eine Lin-gua franca. Denn wenn man die mündliche Kommunikation während der eigentlichen Forschungsprozesse mit darüber berichtenden Forschungsartikeln und ähnlichen Textarten vergleicht, so ist für diese zweierlei charakteristisch: Erstens ist die Informationsabfolge weithin standardisiert und zweitens erfolgt die Textgestaltung mit wiederkehrenden sprachlichen Mitteln und Mustern. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die international gültige Terminologie und die in den mathematisierten Wissenschaften häufig verwendeten Formeln. So weit ist der Begriff der Lingua franca zutreffend. Allerdings hebt der relativ hohe Standardisierungsgrad dieser Textarten den sprachlichen, also vor allem den stilistischen und rhetorischen Anspruch, der an die Textautoren gestellt wird, keinesfalls auf. Freilich ergibt sich dieser Anspruch nicht aus dem Englischen als naturwissenschaftlicher Lingua franca, sondern aus der geschichtlich gewachsenen Rhetorik des akademischen Englischs. Anders gesagt, obwohl das naturwissenschaftliche Englisch eine Lingua franca im Sinne einer internationalen Verkehrssprache ist, also ganz überwiegend der Informationsweitergabe dient und sich dafür eines begrenzten Formen- und Mittelinventars bedient, unterwirft sie den aktiven Nutzer gleichwohl dem rhetorischen Leistungsanspruch einer bestimmten Kultur. Wer diesen Leistungsanspruch nicht beherrscht oder sich ihm verweigert, wird kulturell diskriminiert.

Eine lebendige Sprache ist in einer geschichtlich gewachsenen Kultur verwurzelt und mit dieser verwachsen. Sprache dient eben nicht nur der Übermittlung und Klärung von Informationen und Handlungsanweisungen. Sprache ist vielmehr aktive Teilhabe am geistigen Leben einer Gesellschaft, an deren Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Jedes individuelle Denken steht in einem dynamischen Kontinuum, in dem die Sprache als vorgefundenes und bereits vielfach vorgeprägtes Mittel zum Ausdruck von Inhalt und Absicht dient und sie zugleich das Material für kreative Neuformulierungen bietet. In diesem Sinne ist jede Sprache nicht nur aufbewahrte Kultur, sondern auch Möglichkeit zur Teilhabe am fortdauernden kulturellen Wandel. Gewiss ist es möglich, dass jemand eine andere Sprache wirklich zu beherrschen lernt. Aber gerade wer sich dieses Ziel setzt, wird sich um so mehr mühen, jene Normen zu verinnerlichen und getreulich zu befolgen, die ihm die neue Sprachgemeinschaft aufgibt. Und diese Sprachgemeinschaft ist immer zugleich eine Kulturgemeinschaft. Wer dort nicht nur Gast sein will, muss sich auch voll für die neue Sprache entscheiden. Und nur wenige können tatsächlich mit ihrer ganzen Persönlichkeit in mehr als einer Sprache zu Hause sein.

Heute stehen wir vor der Frage, ob auch in Zukunft noch in Deutsch wissenschaftlich gedacht und formuliert wird. Für die Naturwissenschaften ist das schon weithin entschieden. In allen anderen Wissenschaftsgebieten, auch in den Geistes- und Kulturwissenschaften, ist der Übergang zum Englischen in vollem Gange. Für die intellektuelle Qualität unserer Gesellschaft, die eine freiheitliche Gesellschaft sein will und darum eine Diskursgemeinschaft sein muss, kann die sprachliche Trennung von der Wissenschaft nur verheerende Folgen haben. Vor dieser erschreckenden Wirklichkeit verschließen die meisten Repräsentanten von Wissenschaft und Wissenschaftspolitik Augen und Ohren. Ja, schlimmer noch. Sie tun alles, um die Vertreibung des Deutschen aus der Wissenschaft und aus den Hochschulen zu beschleunigen, und dies mit Hilfe deutscher Steuergelder. Um dies zu erreichen, kommen mehrere Instrumente zum Einsatz. Erstens der vom Wissenschaftsrat, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und von den Senaten der Wissenschaftsorganisationen bei Evaluationen ausgeübte Druck, nur in Englisch zu publizieren. Offiziell heißt es, man solle in internationalen Zeitschriften publizieren. Aber jede amerikanische Zeitschrift nimmt für sich in Anspruch, eine internationale Zeitschrift zu sein, während für deutsche Zeitschriften, selbst wenn sie auf ihrem Gebiet führend sind, dies nicht selbstverständlich ist. Ob eine Publikation in einer englischen oder amerikanischen Zeitschrift akzeptiert wird, hängt jedoch nicht allein vom wissenschaftlichen Interesse ab, sondern auch von der Beherrschung der für das akademische Englisch charakteristischen rhetorischen Strategien. Zweitens wird Druck ausgeübt durch die Verweise auf den sogenannten Citation Index. Dieser wird in den USA kompiliert und von amerikanischen Interessen bestimmt und geht überdies, wie wissenschaftlich nachgewiesen, von einem einseitigen Wissenschaftsverständnis aus. Eigentlich müsste es ja die Aufgabe des neu geschaffenen Europäischen Forschungsrates sein, für einen mehrsprachigen europäischen Zitierindex zu sorgen. Aber diese Institution, die sich natürlich nur European Research Council nennt, sieht ihre vornehmste Aufgabe darin, einen ausschließlich englischsprachigen Europäischen Wissenschaftsraum zu etablieren. Drittens geht Druck aus vom Exzellenzwettbewerb der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Dieser hat zwar durchaus das Verdienst, den Forschungswettbewerb in und zwischen den deutschen Hochschulen kräftig befördert zu haben, zugleich wurde aber bei den Projektanträgen flächendeckend für alle Fächer, also z.B. auch für Geschichte, Germanistik und Philosophie, die Verwendung des Englischen erzwungen – natürlich mit Verweis auf englischsprachige Gutachter, weil nur diese die Objektivität des Verfahrens garantieren könnten.

Der folgenreichste, weil gleichsam institutionell verankerte Schlag gegen die deutsche Wissenschaftssprache und gegen den Platz der Wissenschaft im deutschen Bildungsverständnis ist aber die Einführung des Bachelor und des Master und möglichst auch noch des PhD als akademische Abschlüsse deutscher Universitäten. Die Begründung war und ist Lug und Trug. Denn weder gibt es ein interna-tional anerkanntes angloamerikanisches Graduierungssystem, noch verlangte die – im Übrigen völkerrechtlich nicht verbindliche – Bologna-Erklärung der europäischen Bildungsminister die Einführung dieser Grade. Der eigentliche Skandal besteht nun nicht darin, dass Politiker – wie auch Wissenschaftsrepräsentanten – in dieser Sache getrickst haben, um es mal ganz freundlich zu sagen. Denn so etwas kommt ja auch sonst gelegentlich vor. Sondern der Skandal besteht vor allem darin, dass die deutsche Öffentlichkeit an der Wahrheit überhaupt nicht interessiert war und weiterhin nicht interessiert ist. Im Gegenteil, die meisten wussten sich vor Freude gar nicht zu fassen, dass deutsche Universitäten nun endlich amerikanisch klingende Grade verleihen. Alles andere war zweitrangig. Zwar gab es Kritik und Widerstand, aber meist waren diese Leute überhaupt gegen jede Reform. Was nun wiederum die Reformbefürworter in ihrer Meinung bestärkte, modern und Englisch sei eben doch das Gleiche.

Wie zu erwarten war, hat die Einführung von Bachelor und Master als Dammbruch gewirkt. Denn inzwischen ist die Zahl der Studiengänge und akademischen Institutionen, die sich englischsprachige Bezeichnungen zugelegt haben, nicht mehr zu übersehen. Als Spitzenmerkmal von Universitäten gilt, wenn Studiengänge in Englisch angeboten werden. Forschungsinstitute rühmen sich, dass bei ihnen nur Englisch gesprochen wird. Auch ihre Evaluationsberichte sind natürlich in Englisch, allerdings professionell verfasst oder übersetzt, was natürlich mit deutschen Steuergeldern bezahlt wird. Zunehmend werden, soweit man sich überhaupt noch des Deutschen bedient, jedenfalls die wissenschaftlichen Begriffe in Englisch verwendet. Offenbar meinen inzwischen nicht wenige, ein wissen- schaftlicher Begriff müsse in Englisch sein. Man fragt sich besorgt, ob nicht bald englische Begriffe per se als wissenschaftlich gelten. Was jedenfalls verloren geht, ist die Fähigkeit, Erkanntes in seiner eigenen Sprache formulieren zu können. Schon heute gibt es Wissenschaftler, die behaupten, über ihr Fach könnten sie nur in Englisch sprechen oder schreiben. Mehr noch meinen, es sei gutes Englisch, in dem sie über ihr Fach sprechen. Aus beiden Annahmen folgen Gefahren: einerseits die Entfremdung der Wissenschaft von der deutschen Gesellschaft und, andererseits, der Niveauverlust der deutschen Wissenschaft im internationalen Vergleich. Dass deutsche Universitäten künftig international nur noch als amerikanische Kopien wahrgenommen werden, muss in jedem Fall befürchtet werden.

Was ist nun das Fazit dieser Bilanz? Die Globalisierung im Allgemeinen und die sich ständig intensivierende Internationalisierung der wissenschaftlichen Kommunikation im Besonderen verstärken das Bedürfnis nach raschem und direktem sprachlichen Kontakt. Objektiv ergeben sich daraus für die Sprache einer global führenden Macht viele Möglichkeiten, eine monopolartige Stellung einzunehmen oder doch jedenfalls ihre weltweite Rolle enorm zu stärken. Zugleich entsteht daraus die bisher größte Gefahr für die sprachliche und kulturelle Vielfalt der Menschheit. Diese Gefahr ist mindestens so gravierend wie die Bedrohung der Biodiversität. Wie Menschen und Völker mit solchen Herausforderungen umgehen, ergibt sich aus ihrer Einstellung. Insofern traf Johannes Rau den Kern des Problems, als er den lieblosen Umgang der Deutschen mit ihrer Sprache beklagte. Denn die Haltung zur eigenen Sprache ergibt sich aus unserem Selbstverständnis. Und fraglos gilt für viele Deutschen, dass sie in einer besonders eklatanten Weise vor diesen Herausforderungen versagen, ja, dass sie auf dieses Versagen auch noch besonders stolz sind und es für einen Ausdruck von Toleranz und Weltoffenheit halten. Ohne einen Wandel in der Haltung der Deutschen zu sich selbst wird sich der Niedergang der deutschen Sprache fortsetzen. Gibt es dagegen noch eine Chance? Eine Chance gibt es nur dann noch, wenn die Mehrheit der Deutschen begreift, dass die Zugehörigkeit zu Europa und zur westlichen Welt nicht heißt, sich selbst aufzugeben, sondern deren sprachliche und kulturelle Vielfalt zu bewahren, indem man – bei aller Offenheit und Wertschätzung für Fremdes und Anderes – seinen eigenen Reichtum pflegt und lebt. Eigentlich sollte das eine Selbstverständlichkeit sein. Der enorme Druck gegen die deutsche Sprache, der insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten ganz systematisch aufgebaut worden ist, verlangt allerdings Mut, sich zu dieser Sprache zu bekennen. Für solche Mutproben bietet der deutsche Alltag inzwischen reichlich Gelegenheit. Die Frage ist nur, ob es auch genug Mutige gibt. Liebe zur deutschen Sprache und Mut zur deutschen Sprache sind heute in Deutschland zwei Seiten der gleichen Medaille.

(geringfügige Anpassungen skd, s.e.e.o.)

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