Denglisch
Strangers in Deutschland

Ein paar Anglizismen sind kein Problem, aber unsere Sprache sollten wir nicht leichtfertig hergeben. Was Sudetendeutsche mit Türken gemein haben – und warum der Armeesender der Amerikaner einen späten Sieg feiert.

Ein Essay von Jürgen Trabant

In deutschen Zeitungen erscheinen von Zeit zu Zeit merkwürdig gleichlautende Artikel: progressiv-aufgeklärte Abhandlungen über die deutsche Sprache. Anlass des zyklischen Erscheinens ist meistens, dass sich jemand öffentlich Sorgen über unsere Sprache gemacht hat. Und der darauf reagierende Beitrag – jeweils von einem anderen Journalisten geschrieben – folgt im Wesentlichen einem Tenor: Nun habt euch nicht so!

In der globalen Welt müsse das Deutsche nun einmal oft dem Englischen weichen: Business, Wissenschaft und Show seien global und sprächen daher englisch. Sich dieser Tendenz entgegenzustellen sei unklug und provinziell. Damit wir global mitspielen können, sei es daher am besten, man fange gleich im Kindergarten mit dem Spracherwerb an. Klagen über zu viele Entlehnungen aus dem Englischen seien fehlgeleiteter Nationalismus. Sprache verändere sich doch. Daran könne auch eine Verankerung der deutschen Sprache im Grundgesetz nichts ändern. Und überhaupt gebe es Wichtigeres. Kurz: Das Sprachthema nervt.

Obwohl die Artikel meist demonstrativ lässig daherkommen, schwingt in ihrem offensiv zur Schau getragenen Verdruss doch ein banges Gefühl mit: Möglicherweise könnte es doch um etwas Wichtiges gehen. Und möglicherweise lässt das den Schreiber nicht so kalt, wie er vorgibt. Auf dieser Restemotion basiert meine Hoffnung, dass man in ein Gespräch über die Sprache eintreten kann, in dem die Sorge der einen und die kosmopolitische Coolness der anderen sich vermitteln lassen.

Sprache ist tief mit Emotionen verbunden, mit dem Körper, mit dem Denken, mit der Begegnung mit dem Anderen und der Welt, mit ästhetischen und intellektuellen Erfahrungen – kurz mit allem, was den Menschen bewegt. Sprache begleitet den Menschen sein Leben lang und sogar schon, bevor er auf die Welt kommt, im Mutterleib, wo der Fötus im Rhythmus und im Klang der Sprache der Mutter badet. Die modernen Medien haben die Präsenz von Sprache ins Extreme gesteigert. Wir ertrinken in geschriebenen und gesprochenen Wortschwällen.

Wie andere universelle Fähigkeiten lebt und gestaltet der Mensch auch Sprache unterschiedlich aus: Er spricht viel oder wenig, schnell oder langsam, diese oder jene Sprache, eine Sprache oder viele Sprachen. Manche Menschen erleben den Klang und den Rhythmus ihrer Sprache als ein tief bewegendes Ereignis, andere lässt es ziemlich kalt. Manche Menschen nutzen Sprache rein praktisch zur Kommunikation, andere geben sich der Poesie hin. Doch alle begründen ihre Beziehungen zu den anderen durch Sprache, und alle haben die Welt durch Sprache kennengelernt. Gleichgültig ist Sprache für niemanden.

Es ist eine tief verstörende Erfahrung, wenn Sprache fremd wird. Wenn Menschen fremdeln, weil ihnen ein vertrauter sprachlicher Raum fremd wird, spricht daraus nicht nur nationalistischer Purismus. Wo es früher Fahrkarten gab, gibt es Tickets, die Auskunft ist zum Servicepoint geworden, sogar der – pseudofranzösische, aber heimische – Friseur ist jetzt ein Hairdresser. Banale Beispiele und nicht an sich schlecht. Doch jedes dieser Stücke fremder Sprache macht den Lebenssprachraum vieler Menschen schwieriger. Auch dass in der Straße, in der ich aufgewachsen bin, meine Sprache nun kaum mehr zu hören ist, ist eine tief ins Leben eingreifende Veränderung.

Sprachreisen

Oder dass meine Forschungen, die Arbeit meines Lebens, zusammen mit ganzen Bibliotheken deutsch geschriebener Wissenschaft allmählich in den Orkus der Nichtbeachtung versinken, weil sie nicht auf Englisch geschrieben oder übersetzt worden sind, kann mir doch nicht gleichgültig sein. Es ist doch nicht unverständlich, dass Menschen über dieses Anwachsen sprachlicher Fremdheit Klage führen. Dass man über solche Zurückgebliebenheit die kosmopolitische Nase rümpft, ist eine Möglichkeit – man kann aber auch versuchen, diese Entfremdungserfahrung zu verstehen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg sind auch in die entferntesten Dörfer dieses Landes Menschen gekommen, die andere Dialekte sprachen als den des Dorfes. Ich erinnere mich sehr gut an sudetendeutsche Flüchtlinge in dem nordhessischen Dorf, in dem ich als Kind lebte. Ich selbst war ein Fremder, weil ich einen anderen Dialekt sprach als der Rest des Dorfes, der aber nicht so fremd war wie derjenige der Vertriebenen. Diese wurden gerade auch wegen ihrer anderen Sprache als fremd erlebt, obwohl sie doch „Deutsche“ waren. Aber dann ermöglichte nicht zuletzt die gemeinsame Schrift- und Bildungssprache, die Hochsprache Deutsch, die Integration dieser Fremden. Sie war es, die es ermöglichte, eine Nation zu sein.

Gewiss ist eine Nation, wie Ernest Renan es klassisch formuliert hat, der auf gemeinsamer Geschichte basierende „plébiscite de tous les jours“, die tägliche Volksabstimmung. Diese basiert auch auf der täglich gelebten Erfahrung einer gemeinsamen Sprache. Es ist heute also keine neue Erfahrung für die Deutschen, dass man sich sprachlich fremd sein kann – und dass Integration über die Sprache ge- oder misslingen kann.

Nur sind heute zwischen Einwanderern und Deutschen nur verschiedene Dialekte derselben Sprache im Spiel. Deshalb fehlt oft auf beiden Seiten der Wunsch, eine gemeinsame Sprache zu finden. Das Volk findet sich nicht mehr als gemeinsame Sprachnation zusammen. Die geschichtlichen Erfahrungen verschiedener Einwanderergruppen unterscheiden sich sehr von der deutschen. Eine gemeinsame Sprache würde wenigstens die minimale Voraussetzung für ein Zusammenfinden stiften, sie ist die einzige Hoffnung, dass eine gemeinsame Sprachnation entstehen kann. Daher kann man gar nicht genug Anstrengungen auf sich nehmen, die gemeinsame Sprache zu befördern.

Neben den anders redenden Fremden, die nach dem Krieg in die Dörfer kamen, erfuhr Deutschland auch sprachliche Fremdheit von oben. Die neuen Herrscher sprachen englisch und hatten nichts mit den Einwohnern des Landes zu tun. Die Amerikaner hatten in Frankfurt zum Beispiel zwar ein Hauptquartier mitten in der Stadt, sie hatten aber mit deren Bewohnern so gut wie keine Verbindung. Kontakt nahmen sie fast nur über eine mächtige Stimme auf, über das Radio, das American Forces Network (AFN). Die Kommunikation war einseitig und wurde kaum verstanden. Sie verlangte keine Integration, setzte aber ein Modell fest: So wunderbar klang die Stimme des Siegers.

Durch diese zweite sprachliche Fremdheitserfahrung mussten die Deutschen einsehen, dass es über ihrer Hochsprache noch Höheres gab. Weil die Kommunikation so einseitig war, weckte sie zunächst nur großes Begehren: Man wollte teilnehmen. Gewünscht oder gar verlangt wurde das von den Amerikanern allerdings nicht. Wissenschaft, Wirtschaft, Literatur, Kultur blieben zunächst deutsch und trugen zum Zusammenhalt der Nation bei. Das Begehren aber sollte noch schwerwiegende Folgen haben. Beide Fremdheitserfahrungen, von unten und von oben, wiederholen sich in anderer Form, teils so radikal, dass sie die Sprachgemeinschaft ernsthaft gefährden.

Sorgen um die Sprache

Aus dem Begehren des Zuhörers, der der verführerischen Stimme des American Forces Network lauscht, wurde Unterwerfung. Obaudire heißt der lateinische Begriff für diese Form des Zuhörens. Davon abgeleitet ist der englische Begriff Obedience – Unterwerfung. Sich dem gehörten Wort in Freiheit unterwerfen nennt es die Kirche. Die weltweite Ökonomie spielt nicht mehr nur die AFN-Gassenhauer „Strangers in the Night“ und „Love Me Tender“, sondern sie verlangt Gefolgschaft. Und diese wird bereitwillig gewährt: Aus Horchen ist Gehorchen geworden. Globale Kapitalströme erfordern Kommunikation ohne Hindernis, das heißt ohne andere Sprachen als der einen globalen.

Übrigens auch in der Wissenschaft: Der Impact-Factor – ein von amerikanischen Verlagen auferlegter quantitativer Wirksamkeitsindikator – setzt voraus, dass alle Wissenschaftler englisch schreiben. Wer nicht auf Englisch publiziert, wird nicht berücksichtigt bei der Evaluation seines Tuns.

Die Teilhabe am globalen Englisch ist tatsächlich jene zunächst nur begehrte, nun aber Wirklichkeit gewordene Partizipation am AFN, an der Stimme des Siegers. Die Kosten sind hoch – eine Entwertung der ehemaligen Hochsprache und die Emigration von oben: Die Eliten entfernen sich von der Nation, ziehen praktisch weg. Von der Nation bleibt nur noch die Bevölkerung. Die Nation als kulturelle und sprachliche Gemeinschaft aber löst sich auf: Es beginnt die Desintegration.

Auch beim Desintegrationsproblem ist – wie beim Integrationsproblem – dringend Aktivität gefordert. Wir brauchen Bildung und eine wirkliche Mehrsprachigkeitserziehung, kurzum eine ganze Sprachkultur. Die geschmackvolle Integration englischer Wörter in die deutsche Sprache ist nur ein Teilaspekt einer solchen umfassenden Kultur der Sprache – und steht ihr nicht entgegen.

Angesichts der tiefgreifenden Transformationen unserer Sprache kommt es darauf an, dass sich die Abgeklärten in ihrer Coolness nicht der Sorge um die Sprache hochmütig verschließen. Und dass sich umgekehrt die Besorgten den Wandlungen der Gegenwart nicht stur versagen. Sorge und Coolness müssen gleichermaßen die Sprachkultur dieses Landes gestalten.

Jürgen Trabant ist Professor für Europäische Mehrsprachigkeit an der Jacobs University Bremen und weiß, dass Menschen schon seit Anbeginn über ihre Sprache nachdenken.
Sein jüngstes Buch „Die Sprache“ ist bei C.H. Beck erschienen.

Financial Times Deutschland vom 27. Februar 2011

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