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Hängen und Hängenlassen

Neue Zürcher Zeitung. FEUILLETON vom
Samstag, 11. September 1999.
Kürzlich wurde an dieser Stelle bemerkt, dass die Rechtschreibereform nirgends so häufig und so unheilvoll ins alte Regelwerk eingreift wie auf dem Gebiet der Getrennt- und Zusammenschreibung zusammengesetzter Wörter. In den meisten Fällen lässt sie nur noch die Getrenntschreibung gelten. Damit hat sie nicht nur die Macht der Gewohnheit gegen sich. Sie führt auch zu Monstrositäten («hier zu Lande») und Inkonsequenz («der Aufsehen erregende Vorfall / der aufsehenerregendste Vorfall). Vor allem aber, und davor war noch nicht die Rede, ebnet sie Nuancierungen ein, die bisher in der Sprachform zu erkennen waren, nun aber aus dem Kontext erraten werden müssen.
Ein Lehrer, der den Lümmeln von der letzten Bank in Ruhe etwas auseinandersetzen will, muss sie vielleicht auseinander setzen. Wenn sie sich gehenlassen, wird er sie erst später gehen lassen. Er wird sie ermahnen,masszuhalten; die Mass halten lernen sie im Biergarten. Übrigens hat der Arzt dem Lehrer geraten, kurzzutreten, weil ihm der Umgang mit den Schülern nicht mehr leichtfällt. Würden diese ihn kurz treten, könnte er leicht fallen.
Wer eine Dame sitzen lässt, handelt edler als einer, der sie sitzenlässt. Will man sich in die Zeitung vertiefen, ist einem ein nichts sagender Reisegefährte entschieden lieber als ein nichtssagender. Vielleicht entnimmt man dem vielgelesenen Blatt, in dem man heute noch nicht viel gelesen hat, dass manche Bauern nur mit Mühe ihren Hof halten, während Adlige gerne hofhalten, und dass oft die andere miesmachen, die selber alles mies machen. Vielleicht gehen einem auch Spitzfindigkeiten durch den Kopf wie die, dass die einen braungebrannt sind (Schwarzenegger), andere aber braun gebrannt (Heidegger), dass man Flüchtlinge bleiben lassen soll, das Rauchen aber bleibenlassen. Oft ist es die Satzmelodie,
die den Akzent setzt. Fragt man, ob es jemandem wieder bessergeht – oder ob er besser geht?
Keine der zitierten Zusammenschreibungen wird von der neuen Rechtschreibung, wie sie die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen verwenden, mehr zugelassen. Gibt es einen vernünftigen Grund, ihr hierin zu folgen? Kultur, möchte man meinen, bemisst sich doch nicht zuletzt an der Fähigkeit zur Differenzierung. Gerade in diesem Belang aber wollen uns die Rechtschreibereformer hängenlassen. Immerhin können wir uns noch über sie mokieren. Würden sie uns, wie sie neuerdings zu schreiben belieben, tatsächlich hängen lassen, wäre es recht bald still um uns.
Manfred Papst

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