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Schweizer Schriftsteller – Gottfried Keller (1)

Ihr Verhältnis zu Deutschland und zur deutschen Sprache(ar) Gottfried Keller war zweifellos ein Patriot im besten Sinne des Wortes: Er liebte seine Heimat, bekannte sich zu ihr, besang ihre Schönheiten, litt aber auch – vor allem in den späten Jahren – an den zu Tage tretenden
Mängeln ihrer sozialen und politischen Ordnung. Ebenso wahr ist indessen, dass er auch Deutschland und seine Kultur liebte und als seine geistige Heimat betrachtete. Zweimal
hielt er sich längere Zeit zu Studien in
Deutschland auf. Beidemale kehrte er verein-samt und mittellos, ohne seine ursprünglich angestrebten Ziele erreicht zu haben, nach Zürich zurück; beidemale aber mit einem Schatz wertvoller Erfahrungen und Anregungen.
Das erste Mal weilt er von 1840–1842 in der Kunststadt München, um sich zum Landschaftsmaler auszubilden. Als Gescheiterter kehrt er nach Zürich zurück und vertrödelt ganze Wochen «in grosser Niedergeschlagenheit», bis die leidenschaftlichen politischen Kämpfe in der Schweiz der 40-er Jahre ihn selber in ihre Strudel hineinziehen: «Die Zeit er-greift mich mit eisernen Armen. Es tobt und gärt in mir wie in einem Vulkane. Ich werfe mich dem Kampfe für völlige Freiheit des Geistes und der religiösen Ansichten in die Arme; aber die Vergangenheit reisst sich nur blutend von mir los …» So schreibt er am 5. August 1843 in sein Tagebuch. Politische Streitgedichte und wunderschöne Naturlyrik entstehen – Keller wird sich seiner eigentlichen, seiner dichterischen Begabung bewusst.
In Zürich leben zahlreiche deutsche Emigranten, die vor der politischen Unterdrückung in ihrer Heimat haben fliehen müssen. Einige von ihnen, Dichter und Literaten, gehören zu den ersten Förderern des jungen Dichters. In einem Emigrantenverlag, im «Literarischen Comptoir Zürich und Winterthur», erscheint 1845 die erste Sammlung kellerscher Gedichte, «Lieder eines Autodidakten». Mit einem der damals vorüber-gehend in Zürich weilenden Emigranten, mit dem Dichter Ferdinand Freiligrath (1810–1876) sollte ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden.
Im Herbst 1848 – die Schweiz hatte aus den gefährlichen Wirren heraus ihren Weg in eine moderne Staatsform gefunden – reist der bald 30-jährige Gottfried Keller ein zweites Mal nach Deutschland, und zwar als Stipendiat der Zürcher Regierung. Bis in den Frühling 1850 studiert er in Heidelberg, bevor er nach Berlin weiter zieht. In Heidelberg begegnet er dem Philosophen Ludwig Feuerbach (1804–1872), vertieft sich in seine Religionsphilosophie und löst sich von hergebrachten religiösen Vorstellungen, nämlich vom Glauben an einen ausserhalb des Menschen waltenden allmächtigen Gott und vom Glauben an ein Weiter-leben nach dem Tod.
In Heidelberg befreundet sich Keller mit dem jungen Gelehrten Hermann Hettner (1821–1882), der Ästhetik, Literatur- und Kunstgeschichte lehrt. Bis zu Hettners Tod dauert diese Freundschaft, ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Hettner verfasst u.a. eine der ersten Besprechungen von Kellers Roman «Der grüne Heinrich». Schon in der Heidelberger Zeit hat Keller sich mit Plänen und Vorarbeiten dazu beschäftigt. Aus den damals entstandenen Papieren stammt der folgende Text.

Patriotismus und Kosmopolitismus

Erst durch richtige Vereinigung beider gewinnt jedes seine wahre Stellung. Die Ratschläge und Handlungen des beschränkten und einseitigen Patrioten werden seinem Vaterlande nie wahrhaft nützlich und ruhmbringend sein; wenn dasselbe mit dem Jahr-hundert und der Welt in Berührung tritt, so wird er sich in der Lage eines Huhnes befinden, welches angstvoll die ausgebrüteten Entchen ins Wasser gehen sieht; indessen der einseitige Kosmopolit, der in keinem bestimmten Vater-lande mit seinem Herzen wurzelt, auf keinem konkreten Fleck Erde Fuss fasst, für seine Idee nie energisch zu wirken im Stande ist und dem fabelhaften Paradiesvogel gleicht, der keine Füsse hat und sich daher aus seinen luftigen Regionen nirgends niederlassen kann.
Wie der Mensch nur dann seine Nebenmenschen kennt, wenn er sich selbst erforscht, und nur dann sich selbst ganz kennen lernt, wenn er andere erforscht, wie er nur dann an-deren nützt, wenn er sich selbst in Ordnung hält, und nur dann glücklich sein wird, wenn er anderen nützlich ist, so wird ein Volk nur dann wahrhaft glücklich und frei sein wenn es Sinn für das Wohl, die Freiheit und den Ruhm anderer Völker hat, und es wird hinwiederum diesen edlen Sinn nur dann erfolgreich betätigen können, wenn es erst seinen eigenen Haushalt tüchtig geordnet hat. Immer den rechten Übergang und die innige Verschmelzung dieser lebensvollen Gegensätze zu finden und zur geläufigen Übung zu machen, ist der wahre Patriotismus und der wahre Kosmopolitismus.
Misstrauet daher jedem Menschen, welcher sich rühmt, kein Vaterland zu kennen und zu
lieben, aber misstrauet auch dem, welchem mit den Landesgrenzen die Welt mit Brettern vernagelt ist und welcher alles zu sein und zu bedeuten glaubt durch die zufällige Geburt in diesem oder jenem Volke, oder dem höchstens die übrige weite Welt ein grosses Raubgebiet ist, das nur dazu da sei, zum Besten seines Vaterlandes ausgebeutet zu werden!
Allerdings ist es eine Eigenschaft auch der wahren Vaterlandsliebe, dass ich fortwährend in einer glücklichen Verwunderung lebe darüber, gerade in diesem Lande geboren zu sein, und den Zufall preise, dass er es so gefügt hat: allein diese schöne Eigenschaft muss gereinigt werden durch die Liebe und Achtung vor dem Fremden; und ohne die grosse und tiefe Grundlage und die heitere Aussicht des Weltbürgertumes ist der Patriotismus (ich sage ab-sichtlich diesmal nicht Vaterlandsliebe) ein wüstes, unfruchtbares und totes Ding.

Pressewirbel um einen Trinkspruch des Staatsschreibers Gottfried Keller

Kellers Einstellung zu Deutschland ändert sich auch später kaum. Seine Werke erscheinen in deutschen Verlagen, er fühlt sich als Schweizer Staatsbürger und zugleich als ein dem grossen kulturellen Ganzen zugehöriger deut-scher Dichter. Freundschaftlichen Verkehr pflegt er mit deutschen und österreichischen Dichtern und Literaten, in den späten Jahren u.a. mit Theodor Storm und Paul Heyse (1910 erster deutschsprachiger Literatur-Nobelpreisträger). Mit diesen beiden führt er einen regen, persönlich gefärbten Briefwechsel, wogegen er dem Zürcher Dichterkollegen Conrad Ferdinand Meyer mit vorsichtiger, Ab-stand wahrender Höflichkeit begegnet.
Nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und der Proklamation des neuen deutschen Kaiserreichs in Versailles veranstaltet die deutsche Kolonie in Zürich am 9. März 1871 in der Tonhalle eine Siegesfeier; Gottfried Keller, damals Staatsschreiber des Kantons Zürich, nimmt daran teil. Zur selben Zeit befinden sich noch immer zahlreiche Internierte der besiegten französischen Armee in Zürich. In Arbeiterkreisen steht man dem monarchistischen Deutschland Bismarcks ab-lehnend gegenüber; aber auch weit in bürgerliche Schichten hinein hat sich nach dem
Zusammenbruch des napoleonischen Reiches die Sympathie wieder mehr Frankreich zugewendet. Man empfindet deshalb die von den Deutschen organisierte Siegesfeier als Taktlosigkeit den französischen Internierten gegenüber und als Provokation. Trotz Polizeischutz gelingt es Arbeitern und franzosenfreundlichen Bürgern, die Feier zu stören; es kommt zu einer Saalschlacht, Truppen, die noch im Ordnungsdienst stehen, müssen an-gefordert werden, um die Ruhe wiederherzustellen. Empört und gekränkt verlassen einige Deutsche nach diesem «Tonhallekrawall» die Stadt Zürich, so z.B. das Ehepaar Otto und Mathilde Wesendonck, die bekannten Gönner von Richard Wagner. Auf solche übersteigerte nationale Empfindlichkeit reagiert Keller mit Spott und Ironie.
Das vermag aber an seiner Deutschfreundlichkeit nichts zu ändern. Sie bringt ihn ein Jahr nach dem Tonhallekrawall in die Zeitungsspalten. An einem Bankett wird im
März 1872 der aus Berlin stammende Medizinprofessor Adolf von Gusserow verabschiedet, weil er an die Universität Strassburg berufen wurde, also in die Hauptstadt des vom siegreichen Deutschen Reich 1871 annektierten Elsass-Lothringen. Der Staatsschreiber Gottfried Keller bringt bei diesem Bankett einen, wie er betont, nicht vorbereiteten Trinkspruch aus des Inhalts, Gusserow solle die Strassburger von ihren alten Freunden, den Zürchern, grüssen und ihnen sagen, «sie möchten sich nicht allzu unglücklich fühlen im neuen Reiche. Vielleicht käme eine Zeit, wo dieses Deutsche Reich auch Staats-formen ertrüge, welche den Schweizern not-wendig seien, und dann sei eine Rückkehr der letztern wohl denkbar.»
Das erregt schon am Fest Aufsehen: Ein deutscher Professor betont in seinem Trinkspruch, er würde sich mit allen Kräften für die Republik einsetzen, wenn sie je bedroht wer-den sollte. Keller ergreift darauf nochmals das Wort, um eine Präzisierung nachzuschieben: Die Entwicklung, von welcher er spreche – also eine sukzessive Annäherung der Schweiz an Deutschland bis hin zu einer Rückkehr ins Reich – «könne so gut noch fünfhundert Jahre gehen wie nur wenige Jahre …»
Der staatsschreiberliche Trinkspruch wirbelt diesseits und jenseits des Rheins viel Staub
auf; Keller muss sich sogar als Landesverräter beschimpfen lassen. So lässt er in den «Basler Nachrichten» eine längere Rechtfertigung er-scheinen. Im Schlussabschnitt erkärt er, welche Überlegungen seiner «Trinkspruchphantasie» zugrunde liegen. Sie stehen im Zusammenhang mit der damals laufenden Gesamtrevision der Bundesverfassung, deren Erfolg ja noch keineswegs gesichert ist:
Da nun aber eine Trinkspruchphantasie nicht ein leeres Geschwätz sein, sondern über einem für wahr gehaltenen Gedanken schweben soll, so erlauben Sie mir vielleicht noch den Raum, um diesen Gedanken, der mich allerdings und vielleicht auch andere nicht unehrenwerte Männer, die an die Zukunft zu denken gewohnt sind, bewegt, kurz anzudeuten. Vorderhand bin ich, wenn unsere neue Bundesverfassung, wie ich hoffe, angenommen sein wird, noch lange zufrieden mit unserm Vaterlande und seiner Stellung zu der übrigen Welt, und ich gehöre nicht zu denen, welche eine gänzliche Zentralisation befürchten. Vielmehr halte ich dafür, dass die Kantone erst recht Zeit und Gelegenheit finden werden, für den edleren Teil menschlichen Daseins zu sorgen und darin zu wetteifern. Sollte es sich dagegen nicht so verhalten, sollte diejenige Richtung zum Ziele gelangen,welche auch das jetzt Gebotene nur als Abschlagszahlung betrachten und den förmlichen Einheitsstaat einführen, somit den alten Bund mit seinem fünfhundertjährigen Lebensprinzip aufheben will, so halte ich dafür, dass durch das Herausbrechen des eidgenössischen Einbaues der Kantone eine Höhlung entstehen wird, welche die Aussenwand unseres Schweizerhauses nicht mehr genug zu stützen imstande ist; es beruht diese Meinung nicht auf staatsrechtlichen Theorien, sondern auf psychologischen Erfahrungen. Eine im Inneren so ausgeräumte Schweizerrepublik aber würde ihre Kraft und altes Wesen wiedergewinnen, wenn sie in freiem Verein mit ähnlichen Staatsgebilden zu einem gros-sen Ganzen in ein Bundesverhältnis treten könnte, und dass dieses mit Deutschland ein-mal möglich werden könnte, war eben die Voraussetzung obigen Trinksprüchleins. Wenn ich für einen solchen Anschluss, ein solches Unterkommen in künftigen Weltstürmen mit Vorliebe an Deutschland dachte, so geschah es, weil ich mich doch lieber dahin wende, wo Tüchtigkeit, Kraft und Licht ist, als dorthin, wo das Gegenteil von alledem herrscht. Einst-weilen aber wollen wir nicht um des Kaisers Bart streiten.

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