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Sprachpillen – einst und jetzt

Wir führen die in der Ausgabe 1/2001 begonnene Abgabe von Sprachpillen weiter und wünschen allen Leserinnen und Lesern viel Erfolg mit einer Sprachkur, die nichts kostet – ausser denken und handeln.Düüri Landjeger
Sonderbar, dass man auf den Gedanken kommen konnte, flachgepresste längliche Würste mit Landjägern zu vergleichen. Landjäger – ich spreche nicht von sportlich gedrillten Stadtpolizisten der Gegenwart – richtige Landjäger sahen nie besonders dürr aus. Im Gegenteil, ihr Embonpoint war typisch und bildete den beleibten Ausgangspunkt ergötzlicher Witze und Neckereien. «Dürre Landjäger» muss ein Irrtum sein.
Es ist auch einer. Mir wurde dieser Irrtum klar, als mir ein Appenzellerfreund, den ich besuchte, ein paar Würste zeigte, die ihm eine Verwandte aus seinem Heimatort gebracht hatte – sie sahen aber anders aus als die bei uns bekannten «dürren Landjäger» – und erklärend bemerkte: «Wäscht, das ischt näbes Bodestendigs; das sind lanntige Wörscht». Ich wusste zuerst nicht recht, was ich aus dem Wort machen sollte, ob land-tige oder lang-tige oder noch etwas anderes, aber ein Zusammenhang mit unsern «dürren Landjägern» dämmerte mir doch schon. Später fand ich in Toblers Appenzellischem Sprachschatz, dass «teges Fläsch» oder kurz «Teges» im Appenzellischen dürres oder geräuchertes Fleisch bedeutet, dass man da von «lang tegne» oder «hert tegne» Würsten redet und solche geräucherte Würste auch «Langtige», «Laangteger» oder «dürri Lantiger» nennt.
Da waren sie also, die dürren Landjäger! Weiteres Suchen ergab, dass man auch anderwärts, zum Beispiel im Toggenburg, in Baselland und im Aargau «tiges Fleisch», sogar «tiges Holz» im Sinne von dürrem, geräuchertem Fleisch, dürrem oder doch getrocknetem Holz kennt, im Gegensatz zu grünem Fleisch oder Holz. Franz Xaver Herzog, in seinem «Samiklaus unterm Nussbaum», redet davon, wie sich irgendein widerspenstiger Balz durch ein paar «Tigerwürste» werde zur Unterschrift überreden lassen. Auch im Bayerischen ist «digen» nicht unbekannt im Sinne von «gselcht» (geräuchert). Das Wörterbuch von Schmeller kennt «digne Wurst», «tigen oder gselcht Fleisch», sogar, aus älterer Sprache, «digen wein-per» (getrocknete Weinbeeren).
Dieses «digen» oder «tige» ist nichts anderes als das neuhochdeutsche «gediegen», Mittelform von gedeihen, dessen Grundform deihen so gut wie ausgestorben ist. Aus der Bedeutung austrocknen, zusammendrängen muss sich im Partizip die von fest, dicht, gehaltvoll, echt entwickelt haben: gründliche, solide Kenntnisse, wie gediegenes Gold: durch und durch echtes Gold.
Aber nun lanntige? Am wahrscheinlichsten ist die Erklärung aus «lang tige»; das kann sowohl heissen: lang gediegen, also lang getrocknet, geräuchert, als auch (wie sich aus dem Namen «lange Appenzeller Wurst» ergibt) lang und gediegen. Doch auch landtige (im Lande gediegen oder, richtiger, im Lande gediehen = gewachsen, geworden) ist nicht zu verwerfen. Für diese Erklärung spricht eine Stelle in unserm Chronisten Valerius AnshelmINSERT INTO `skd_posts` VALUES(3,162), wo von einem «lantdiechinen groben, grawen Rock» die Rede ist, den ein geistlicher Würdenträger vor Gericht gegen seinen Ornat eintauschen muss. Damit ist doch wohl ein im Lande gewobener, schichter Rock gemeint. Die Lautform «diechinen» mit ch anstatt g könnte als fränkischer Einschlag in der Mundart Anshelms, der aus dem schwäbischen Rottweil stammte, erklärlich sien.
Um die Lebensgeschichte des Wortes kurz zusammenzufassen: Im Appenzell und anderswo gab es «lang tege Wörscht», das heisst, lang gerächerte, die man auch kurz «Landtige» nannte, wie man etwa kurz «Gschwellti» für geschwellte Erdäpfel sagt. Aus «Langtige» machte der (hierin gerade witzige) Volkswitz «Langtiger», so dass nun auch «Tigerwürscht» entstehen konnte. Da der Sinn von «tige» oder «Tiger» verloren gegangen war, glaubte man das Wort durch «dürr» erläutern zu müssen und sagte «dürre Landiger», deutete aber die Landtiger zu «Landjeger» um. Dies war durch die altmundartliche Aussprache von «Jeger» als «ieger» mit dem Ton auf i erleichtert (vergleiche iez, en iedere, Heriemer). Dass Langtiger als Landtiger verstanden werden konnte, wird besser begreiflich, wenn man weiss, dass aus berndeutschem längwilig, längtwilig ein läntwilig entstanden ist.
Otto von Greyerz, Sprachpillen, 1938
«Über der europäischen Kultur schwebt eine ernsthaft drohende Gefahr. Die Bedrohung geht von einer Massenkultur aus, die über den Atlantik kommt … Man kann sich in der Tat nur wundern, dass eine starke, zutiefst intelligente und von Natur aus humane europäische Kultur zurückweicht vor dem primitiven Trubel von Gewalt und Pornographie … und billiger Gedanken.»
Michail Gorbatschow (Perestroika)

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