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Wie die deutsche Sprache ausstarb

Die unwahre Geschichte von Hans GmürHeute – genauer gesagt: am 29. September 2020 – wissen wahrscheinlich nur noch die wenigsten, dass es in der Schweiz einmal vier Landessprachen gegeben hat. Neben Französisch, Italienisch und Rätoromanisch nämlich auch noch Deutsch. Was noch unbekannter sein dürfte: Deutsch war vor zwanzig Jahren sogar die grösste Landessprache. Fast zwei Drittel aller Schweizer redeten Schweizerdeutsch miteinander und konnten sich auf Hochdeutsch wenigstens der Spur nach verständigen. Zum Glück wissen wir noch, wie das Hoch-deutsche in der Schweiz um die Jahrtausendwende beschaffen war. Der Verfasser dieses Artikels ist bei seinen einschlägigen Recherchen auf einen Aufsatz gestossen, den der damals elfjährige Hansruedi Rusterholz im September 2000 geschrieben hat. Unter dem Titel «Meine Sommerferien» brachte er Folgendes zu Papier:
«Seit Daddy und Mutsch geschieden sind, ist Daddy wieder ein Singel. Sein Görlfrend heisst Sandy. Sie ist eine schaurige Binty. Als sie miteinander in die Ferien flogen, durfte ich auch mit. Echt kuul! Die Destinäischen hat Daddy im Internet gebuukt. Er hat sie beim Sörfen auf der Webseit von einem Tuuropperäiter gefunden und heruntergeloudet. Am Airport hat Sandy gefragt, ob er die Tickez hat. Er hat gesagt: Iisi. Sie hat gesagt, dann ist es ja okay. Wir können eintschäggen.
Nachher waren wir nicht in a Hörri. Wir sind zur Informäischen Senter und in den Buukschopp und zum Tschäintsch und in den Löntschrumm. Sandy hat einen Wellnessdrink genommen und ich einen Softdrink und Daddy einen Longdrink. Und gfuudet hat er ein Stäik und sie ein Snäck und ich ein Tschiisbörger, ächt kuul! Dann war es Zeit zum Borden. Wir mussten zum Gäit. Und die Tickez zeigen. Und die Bordingkard. Die Hostess zeigte uns den Siit. Und sie wünschte uns einen guten Flait und Häfa Naisstaim und wir hatten riali viel Fönn. Auf dem Tschällel von Daddy kamen die Biitels und auf meinem Häwimettel und auf dem von Sandy der Film Mischen im Bossibel…» Wie man sieht, war die deutsche Sprache damals noch völlig intakt. In der Folge erhielt sie jedoch eine Reihe von Dolchstössen, die sie letztendlich nicht überlebt hat. Den ersten versetzte ihr ein gewisser Ernst Buschor. Zur Zeit, als Hansruedi Rusterholz den obigen Aufsatz schrieb, war Herr Buschor im Kanton Zürich Erziehungsdirektor. In einem ebenso einsamen wie weisen Entschluss verfügte er, dass Zürcher Schüler in Zukunft als erste Fremdsprache nicht mehr Französisch, sondern Englisch lernen sollten. Das empfanden seine Amtskolleginnen und -kollegen in der welschen Schweiz als Affront und Indiz typisch zürcherischer Arroganz. Nach anfänglichem Zögern beschlossen sie schon ein Jahr danach, zurückzuschlagen. Deutsch war in der Romandie nie ein beliebtes Schulfach gewesen. Jetzt wurde es im Lehrplan durch Eng-lisch ersetzt. Dasselbe passierte im Tessin. Der Verzicht auf das Schulfach Deutsch fiel in diesen Landesteilen zeitlich zusammen mit dem ungleich schmerzlicheren Verzicht auf die Durchführung der Expo 02. Auch in den Tälern Graubündens, wo man Romanisch sprach, wurde ein Dolchstoss gegen die deutsche Sprache geführt. So einmütig, wie es die Rätoromanen noch nie zuvor gewesen waren, beschlossen Engadiner, Oberhalbsteiner und Oberländer, ab sofort kein Deutsch mehr zu lernen. In einer Blitzaktion wurden die Ortstafeln im ganzen Gebiet ausgewechselt. Statt in Romanisch und Deutsch waren sämtliche Dörfer, Weiler und (sofern vorhanden) Städtchen jetzt Romanisch und Englisch angeschrieben. Aus Samedan/Samaden zum Beispiel wurde Samedan/Sam Eden. Aus Muster/Disentis Muster/This and this. Aus Domat/Ems Domat/Blocher-Town. Feriengäste aus Zürich wurden statt mit «grüezi» freundlich, aber konsequent mit «Good morning, Sir» angesprochen. Herr Buschor war nicht entgangen, dass man in der übrigen Schweiz sein – wie man es dort nannte – Vorprellen nicht sonderlich geschätzt hatte. Andererseits schien ihm eine Reihe von Umfragen Recht zu geben. Also sah er keinen Grund, seine munter sprudelnden Ideen für sich zu behalten. Gerne hätte er das Frühenglisch, das ihm so sehr am Herzen lag, noch etwas früher eingeführt. Im Kinder-garten zum Beispiel. Leider liess sich das nicht machen, weil er selbst diesen Kindergarten bereits abgeschafft hatte. Zum Glück kam ihm sehr bald schon eine Ersatzidee, die man mit Fug und Recht als genial bezeichnen darf. Er liess eine Broschüre «Englisch für Neugeborene/Englisch für babies» drucken und an sämtliche Mütter im Kanton Zürich verteilen. Zürcher Mütter wurden darin angewiesen, bei der sprachlichen Erziehung ihrer Sprösslinge keine Zeit mehr zu vertrödeln. Auf das Beibringen von kindischen Ausdrücken wie «Nammnamm», «Gudigudi», «Fuditätsch», «Mammi» und «Pappi» war – bei Androhung einer Busse – zu verzichten. Statt-dessen sollten die «dear mothers» ihren Sprösslingen vom ersten Schoppen-Geben ab wichtige Grundbegriffe der englischen Sprache wie «mouseklick», «user», «provider» und «homepage» beibringen.
Dass der Aktion kein voller Erfolg beschieden war, lag nicht an den Zürcher Müttern. Sie hielten sich vorbildlich an die Anweisungen. Leider lässt sich das von den serbo-kroatischen, türkischen, portugiesischen und albanischen Müttern im Kanton Zürich nicht sagen. Da Herr Buschors Budget nicht ausgereicht hatte, die Anleitung auch in die Muttersprache dieser Mütter zu übersetzen, wuchsen deren bedauernswerte Babys auf, ohne rechtzeitig von der sogenannten Buschor-Doktrin zu profitieren.
Schon ein Jahr später machte der Erziehungsdirektor diesen Nachteil mit einer weiteren genialen Verfügung wett. Er sorgte dafür, dass Kinder aus fremdsprachigen Familien mit Deutsch gar nicht in Berührung kamen, indem er dieses ganz aus dem Lehrplan strich. Englisch war ab sofort nicht nur die erste Fremdsprache, sondern auch das einzig noch erlaubte Idiom im Unterricht. Auch auf dem Pausenplatz war Deutsch genau so verboten wie Stellmesser, Hasch-Konsum und Soft Guns. Die einzige Bevölkerungsgruppe, die sich für die Erhaltung der deutschen Sprache einsetzte, war die Werbebranche. Schon vor einiger Zeit hatten die Werber angefangen, all ihre Slogans in Englisch zu formulieren. Englisch war die Sprache der Werbung geworden. Was «in» war, musste einen englischen Namen haben. Nur dann war es interessant und modisch. Nur dann wurde es gekauft. Wenn es nun aber kein Deutsch mehr gab, verlor das Werbe-Englisch den Reiz des Exotischen, Elitären, Exklusiven und Erstrebenswerten. Deshalb, fanden die Werber, musste man die deutsche Sprache am Leben erhalten. Die Erkenntnis kam zu spät. Noch ehe der Patient «Deutsch» im Spital eingeliefert wurde, war er tot.
The rest is silence.
Aus dem Zürcher Oberländer

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