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Die alte Eidgenossenschaft –sprachlich «multikulti»

Das Land der 40 Sprachen
Vor Hunderten von Jahren gingen die Schweizer einiges unverkrampfter mit anderen Sprachen um als heute. Selbst das ein-fache Volk war mehrsprachig.
Der lange Kampf um das Überleben des Rätoromanischen oder der Streit um die Einführung von Frühenglisch in der Schule zeigen, dass sich die Schweiz schwer tut mit ihrer Mehrsprachigkeit.
Das war nicht immer so. Die alte Eidgenossenschaft des 15. bis 19. Jahrhunderts war geprägt von verschiedenen Wirtschaftsräumen, Regierungs- und Rechtssystemen sowie Kulturtraditionen. Norbert Furrer, Historiker und Linguist an den Universitäten von Lausanne und Bern, kommt zum Schluss, dass die «Gesellschaft des Ancien R6gime möglicherweise multikultureller» war als die heutige. Ausdruck dieser Vielfalt war ein aussergewöhnlicher sprachlicher Reichtum. Innerhalb eines Gebietes existierten klassische Sprachen, in Normen und Regeln gefasste Hochsprachen und zahl-reiche Dialekte.
Zuoberst in der Hierarchie standen Latein, Griechisch und Hebräisch. Es folgten die Kanzleisprachen, Mundarten sowie schliesslich Minderheiten- oder Sondersprachen wie Jenisch. Wer der Elite angehörte, war der klassischen Sprachen mächtig. In der gebildeten Mittelschicht wurde neben der zu Hause erlernten Mundart die Schriftsprache gesprochen. Das einfache Volk sprach meist so, wie ihm der Schnabel gewachsen war.
Das Bild des Bauern, der nie aus dem Heimatdorf wegkam, ist falsch. Gerade das einfache Volk bewegte sich aus Notwendigkeit zwischen den Sprachgemeinschaften hin und her. 970 Polizeisteckbriefe aus der Zeit von 1728 bis 1849 belegen Furrers These. Über 80 Prozent der Gesuchten waren zwei-sprachig. 133 Personen waren dreisprachig, 18 viersprachig und 13 fünf- oder mehrsprachig. Der 33jährige Kaminfeger Paul Pancaldi aus Ascona etwa wurde gesucht mit dem Signalement «spricht italienisch, deutsch, polnisch und böhmisch». Korbmacher Peter Nicolet aus Murten, 23 Jahre alt, sprach «französisch, deutsch, holländisch, italienisch und das Freyburger Patois». Elisabeth Byland aus Muri AG hatte eine «grobtönige, schnelle Aussprache, spricht den Luzernerdialekt und gut französisch». Dass die Menschen unverkrampft mit Sprachen umgingen, zeigt sich auch im selbstverständlichen Gebrauch von fremdsprachigen Ausdrücken. Erschien es angemessen, wechselte man die Sprache – in gehobenen Kreisen ziemte es sich, Lateinisch oder Französisch zu parlieren. Die Menschen hatten einen ausgeprägten Hang zum genussvollen Wechseln von einer Sprache in die andere innerhalb einer Aussage. Dabei zeigten sie weder Respekt vor Regeln noch hatten sie Angst, ihre Sprache zu verhunzen.
Dieser Umgang mit der Sprache dauerte bis ins 19. Jahrhundert: In Schule, Armee und Bürokratie der neu gebildeten Nationalstaaten wurde die Uniformisierung vorangetrieben. Die Nationalsprache wurde Ausdrucksmittel der nationalen Ideologie. In der Schweiz etablierten sich von den Schriftidiomen Französisch und Italienisch neben der vormaligen Staatssprache Deutsch als «Nationalsprachen». Zugleich verschwanden in der französischen Schweiz bis ins 20. Jahr-hundert fast alle Mundarten.
In der italienischen Schweiz glichen sich die Dialekte dem Westlombardischen an. Alemannisch und Lombardisch erstarkten angesichts der totalitären und nationalistischen Bedrohungen aus Norden und Süden. 1938 schliesslich wurde Rätoromanisch zur vierten Landessprache.
Petra Stöhr, SDA
Norbert Furrer: «Die vierzigsprachige Schweiz. Sprachkontakte und Mehrsprachigkeit in der vorindustriellen Gesellschaft (15. bis 19. Jahrhundert)».
2 Bände. Chronos-Verlag.
Anzeiger von Uster vom 20. Juli 2002 (gekürzt)

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