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Greuliche Zeiten

Die neue Rechtschreibung stammt aus dem tiefsten 19. Jahrhundert.

Wie schafft man eine missratene Rechtschreibreform vom Tisch? Indem man über sie berichtet. Die Weltwoche berichtete am 25. Juni 1954 über Pläne, welche mit der Kleinschreibung der Substantive und weiteren Eingriffen zu folgenden Erscheinungen geführt hätten: sensazion, wase, zilinder, si hat in der tat ser vil erzält. Unter dem treffenden Titel «Die neue ‹ortografi›» liess die Weltwoche einen Reformer auftreten, den Sprachwissenschaftler Hans Glinz. Dazu kam eine Umfrage unter Schriftstellern. Hermann Hesse schrieb wortkarg: «Die vorgeschlagene neue Orthographie lehne ich, wie jede Verarmung der Sprache und des Sprachbildes, vollkommen ab.» Thomas Mann antwortete: «Mich stösst die Brutalität ab, die darin liegt, über die etymologische Geschichte der Worte rücksichtslos hinwegzugehen.» Friedrich Dürrenmatt: «Ändert man die Orthographie, ändert man die Sprache. Gegen Sintfluten kann man nicht kämpfen, nur Archen bauen: Nicht mitmachen.» Das wurde im ganzen deutschen Sprachraum gelesen, und die Sintflut musste zurückgezogen werden.

Hatten die Reformer des Jahres 1954 etwas Neues versucht? Nein, 1869 hatte der Lehrer Jakob Bucher in der Schweizerischen Lehrer-Zeitung geschrieben: «Ich möchte meine ermanung zu rüstigem und unferzagtem forwertsschreiten hir widerholen. Bereits hat sich di lererkonferenz des kantons Luzern dafür ausgesprochen, es sei eine fereinfachung der ortografi anzustreben.»

So treten immer wieder die spintisierenden Veränderer auf, die sich nicht um die Sprache und die Sprechenden scheren. Erlitten sie 1869 und 1954 Schlappen, so hatten sie 1996 zu unser aller Pech Glück. Die neuen Reformer entstammen der Familie; Hans Glinz gab den Stafettenstab des 19. Jahrhunderts seinem akademischen Schüler Horst Sitta weiter, und Sitta versucht nun, unterstützt von eigenen Schülern, die neue Rechtschreibung durchzusetzen. 1996 wurde freilich nicht eingeführt, was die Reformer eigentlich wollten (ungefähr Lehrer Buchers Programm), sondern das, was die Politiker für vertretbar hielten. Weil man nichts erprobte, musste man laufend verbessern. Heute wird behauptet, der Rat für Rechtschreibung habe die Sache abgeschlossen – in Wahrheit hoffen die Beteiligten, dass nur ja keiner merkt, was alles noch geändert und zurückgenommen werden muss.

Ein Beispiel: Wollte Glinz tz durch z ersetzen (ersezen), so will sein Schüler Sitta die Unterscheidung der Wörter gräulich (ein wenig grau) und greulich (schrecklich) aufheben; es soll nur gräulich geben. «Es war ihm unmöglich», prophezeite der Aphoristiker Lichtenberg 1773, «die Wörter nicht in dem Besitz ihrer Bedeutungen zu stören.»

In der Grauzone

Wenn wir schreiben, um möglichst deutlich einen Sinn zu vermitteln, so ist Undeutlichkeit oder Zweideutigkeit die Katastrophe, die uns bedroht. Heute ist die Katastrophe amtliche Vorschrift. Tun wir, was die Reformer nicht tun: schlagen wir Bücher auf und prüfen die Sprachwirklichkeit. Thomas Hürlimann erzählt in seiner Novelle «Fräulein Stark», wie der St. Galler Stiftsbibliothekar und sein Stab nach der Arbeit ausschauen: «Der Onkel, gewandet wie ein Tropenmissionar, stürmte aus dem Saal, im Gefolge Vize Storchenbein und sämtliche Hilfsbibliothekare, alle verschwitzt, gräulich verstaubt.» Was meint Hürlimann? Ein wenig grau verstaubt oder schrecklich verstaubt? Nach dem Willen der Reformer bleibt das ein ewiges Geheimnis. Es sei gelüftet: Hürlimann schrieb gräulich im eigentlichen Sinn, er meint die Farbe.

Der Kabarettist Heinz Erhardt reimt reformiert so: «Eine gräulich schwarze Fliege / sitzt dort rechts auf der Tapete, / putzt die Flügel und das linke / Mittelbein. – Ich lese Goethe.» Man vergleiche eine Strophe Heinrich Heines, in der ein gräulich schwarzer Koboldhauf rumort. Auflösung: Erhardts Fliege ist gräulichschwarz, Heines Koboldhauf greulich schwarz. Friedrich Rückert dichtete: «Grau macht die Zeit, die greuliche; / Trau nicht auf die untreuliche! / Sie lacht dir einen Augenblick, / Und grinst dann, die abscheuliche.» Gräulich ist etwas anderes als greulich. Was vor der Reform auf den ersten Blick klar war, ist jetzt noch nach dem fünften unklar.

Die Reformer, die ihre Lesepflicht mit dem Räuber Hotzenplotz für erfüllt halten, regeln, was sie nicht kennen. Sie werden mit ihrem ruchlosen Unsinn noch so lange Erfolg haben, als die Öffentlichkeit nicht Bescheid weiss.

Von Stefan Stirnemann, Dritte Folge der Ermittlungen zur neusten Rechtschreibung. Heruntergeladen gemäss Netzhinweis im Editorial der Weltwoche 18/2007, vom 3. Mai

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