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Deutschstunde

Eine Betrachtung über Sprache und Identität

Von Josef Schmid

Sprache speichert Geschichte, Schicksale und lässt etwas von der
Landschaft ahnen, in der sie entstanden ist. Übersetzungen in andere
Sprachen sind ohne Verluste an Inhalt und Sinn nicht zu haben. Nur die
Umschreibungskunst und zusätzliche Erläuterungen retten oft etwas vom
Sinn des Originals.

Greifen wir doch einige wichtige deutsche Wörter heraus, für die wir in
anderen europäischen Sprachen kein entsprechendes Gegenstück finden!

Da wäre gleich das Wort Bildung zu nennen, wie es Wilhelm von Humboldt
geprägt hat. Bildung ist nicht höherer Schulabschluss, sondern will das
Menschengemäße entwickeln, will auf ein Menschentum hinführen im Staat
und in seinem Kernstück, der Universität. Bildung sorgt dafür, dass
Wissen, Wissensfortschritt und Ausbildung in einem kultivierten Rahmen
bleiben. Der Gelehrte Max Weber tobte einmal gegen „Fachmenschen ohne
Bildung, Genussmenschen ohne Herz“ und fühlte das Auseinanderfallen der
Humboldt“schen Bildungsidee. Heute wissen wir, dass galoppierende
Fortschritte einen Maßstab zu ihrer Beurteilung brauchen. Hier haben wir
einen zur Hand, der zwischen Bildung und Ausbildung unterscheidet und sie
zusammenführt.

Weder im englischen „formation“, noch in der französischen „formation“
findet sich dieser Inhalt.

Das einmalige Vorhandensein des Wortes Mensch in der deutschen Sprache
ermöglicht, vom Menschengemäßen und von Menschtum überhaupt zu sprechen,
und Menschheit und Menschlichkeit auseinander zu halten. Weil in den
anderen westlichen Sprachen diese Unterscheidung fehlt, wird seit langem
„human society“ von deutschen Studierenden mit „menschlicher
Gesellschaft“ übersetzt. Ob die Menschengesellschaft auch eine
menschliche ist, steht auf einem anderen Blatt. Die Sprachverflachung
führt auch noch zu irrigen Urteilen.

Die Frage, mit welchem Antriebsmotor die Menschheit voranschreitet,
bringt uns auf Vernunft, einen abendländischen Begriff schlechthin. Für
die lateinischen Völker hat die „Raison“ einen philosophischen und
staatspolitischen Auftrag. Für die Angelsachsen ist „Reason“ eine
strategisch-ökonomische Angelegenheit. Die Deutschen könnten damit
zufrieden sein, dass eines der wichtigsten Bücher der Menschheit, die
„Kritik der reinen Vernunft“ in ihrer Sprache vorliegt. Doch seit dem
Terror der Französischen Revolution, in der sich erstmals eine frische
Staatsräson entlud, fürchten sie Regimes, die sich der totalen
Durchsetzung von Vernunft verschrieben haben.

Die französische Raison hat etwas von der Trennschärfe einer
Rasierklinge, um nicht zu sagen: eines Schneidemessers der Guillotine.
Bei Johann Gottfried Herder findet sich neben Vernunft der Ausdruck
Besonnenheit. Er entspricht der deutschen Vorstellung von Vernunft und
findet nicht seinesgleichen bei Romanen oder Angelsachsen. „Reflexion“,
wie sie sagen würden, meint das Überdenken einer Sache, aber keine
wünschenswerte Tugend, die vor Exzessen bewahrt.

Eine Mentalitätsscheide zum übrigen Westen tut sich im Begriff der
Währung auf. In diesem deutschen Wort stecken obrigkeitliche Versprechen
wie die Gewähr, unbedenklich die Früchte seiner Arbeit dagegen
eintauschen zu dürfen, und die Wahrhaftigkeit, ihren Wert zu behalten.
Die lateinischen Völker Europas haben für Währung ein eher abschätziges
Wort. Es klingt nach Moneten und ihr Wert blieb Regierungsbeschlüssen
unterworfen. Dort ist es kein Vergehen, mit inflatorischen Mitteln
Konjunktur und Arbeitsmärkte zu beleben. Für die Angelsachsen ist Währung
ein bloßer Umlauf, „currency“, weitab von Gewähr und Wahrheit. Den
Franzosen war die deutsche Währungs- und Finanzpolitik schon lange ein
Dorn im Auge. Sie hielten eine unabhängige Bundesbank für eine Vierte
Gewalt im Staat und baten im Zuge der Wiedervereinigung um ihre
Abschaffung. Die Deutschen hatten zu tun, die nachfolgende Europäische
Zentralbank auf ihr Territorium zu locken und sie mit ähnlichen
Prinzipien auszustatten und durchzusetzen.

Hier haben wir ein Bespiel, wie mit einem Wort auch das Verständnis für
die Sache fehlt, die es bedeutet.

Ein erstaunliches Wort ist Wirklichkeit: das uns Umgebende, in dem wir
teils gefangen sind, in dem wir aber auch Handlungsspielraum, Sitz und
Stimme haben. Was uns die modernen Systemdenker als Komplexität nahe
bringen wollen, enthält dieses deutsche Wort schon. Es führt uns vor
Augen, wie sich Kräfte, Ereignisse und vorangegangene Zustände
miteinander verwirken, – wie sich Veränderungen einstellen ohne unser
Zutun und solche, die eigener Anstrengungen bedurften. Wirklichkeit macht
uns aufmerksam, dass wir sie nur teilweise erfassen und vieles verborgen
und unvorhersehbar bleibt. Wirklichkeit beruhigt uns mit dem, was wir von
ihr wissen, zeigt uns den Weg, wie wir mehr erfahren können, und ermahnt
unser Menschenhirn zu Bescheidenheit. Wirklichkeit ist kein zeitloser
Zustand: alle Zeiten haben an ihr mitgebaut, ihre Spuren sind überall zu
finden. Sie ist ein Zusammenwirken von Vergangenheit und Gegenwart.
Manches hat sein Dasein verwirkt wie technisches Gerät oder Ideologien,
manches setzt zum Sprung in eine Zukunft an und wird fortwirken – in eine
kommende Wirklichkeit hinein.

Hier kann man nachfühlen, wie schmerzlich einem zumute ist, wenn man für
einen englischen Artikel nur von „reality“, in einem Pariser Vortrag nur
von „réalité“ sprechen kann, was nur sachgemäße Darstellung heißt.

Das Wesen der eigenen Sprache erschließt sich an den Sinnverlusten, die
durch Übertragung in eine andere Sprache entstehen.

Und so sind wir wieder bei einer Kernfrage angelangt, nämlich nach der
europäischen Identität: Sie ist kein unbeschriebenes Blatt. In den
Nationalsprachen schlägt das Herz Europas und nicht in den
Übersetzungsbüros.

Deutschlandradio vom 16.Sept. 2007
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/signale/670102/

Josef Schmid, geboren 1937 in Linz/Donau, Österreich, zählt zu den
profiliertesten deutschen Wissenschaftlern auf seinem Gebiet. Er studierte
Betriebs- und Volkswirtschaft sowie Soziologie, Philosophie und Psychologie.
Von 1980 bis 2005 war Schmid Inhaber des Lehrstuhls für
Bevölkerungswissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg-

Seine Hauptthemen: Bevölkerungsprobleme der industrialisierten Welt und
der Entwicklungsländer, Kulturelle Evolution und Systemökologie. Schmid
ist Mitglied namhafter nationaler und internationaler Fachgremien.
Veröffentlichungen u.a.: Einführung in die Bevölkerungssoziologie (1976);
Bevölkerung und soziale Entwicklung (1984); Das verlorene Gleichgewicht –
eine Kulturökologie der Gegenwart (1992); Sozialprognose – Die Belastung
der nachwachsenden GenerationINSERT INTO `skd_posts` VALUES(2000). In „Die Moralgesellschaft – Vom
Elend der heutigen Politik“ (Herbig Verlag, 1999) wird der Widerspruch
zwischen Vergangenheitsfixiertheit und der Fähigkeit zur Lösung von
Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben scharfsichtig analysiert.

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