• Allgemein
  • 0

Reiner Kunze—
Rede zur Sprache

Gehalten am 8. September 2007
vor der Neuen Fruchtbringenden Gesellschaft zu Köthen/Anhalt

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Schülerinnen und Schüler,
wenn ich eine Rede zu halten habe wie die, die Ihnen allen jetzt bevorsteht, und unter den Zuhörern so ganz junge Gesichter sehe, tun sie, die Jungen und Jüngsten, mir leid, denn für sie würde ich lieber eine andere Rede halten. Vielleicht würde ich aus Briefen vorlesen, die mir Schüler schrieben. Vor einiger Zeit erhielt ich folgendes Fax: „Bitte wegen Deutsch-Abitur um kurze Inhaltsangabe Ihrer Bücher und was Sie selber davon halten. Eilt, weil Prüfung schon am Donnerstag.“ In einem Brief aus Bremervörde hieß es: „Für die Ausarbeitung einer Interpretation eines Ihrer Gedichte bitte ich Sie um eine Stellungnahme… Wir wenden uns direkt an Sie, weil Sie einer der wenigen Dichter sind, die wir bearbeitet haben und noch nicht das Zeitliche gesegnet haben…“ Die jungen Redakteure der Schülerzeitung „Das Nashorn“, Schule Grolland, Bremen, baten mich um einen Vierzeiler über das Nashorn.

Scherzo für Nashorn

Das Nashorn ist
ein Nashornist,
der sich nie trennt
vom Instrument.

Doch ich muß mich leider anderen Themen zuwenden und bitte um Entschuldigung.

Meine Damen und Herren, vergangenes Jahr erschien in London die englische Ausgabe einer aus dem Deutschen übersetzten Publikation über die dichterische Existenz Peter Huchels in den beiden deutschen Diktaturen, und der Originaltitel, „Die Chausseen der Dichter“, der sich auf Huchels berühmten Gedichtband „Chausseen. Chausseen“ bezieht, erwies sich als unübersetzbar. Die Sprachmacht des englischen Übersetzers steht außer Frage – er übersetzte Adorno und Benjamin, letzteren für die Harvard-Edition.
Worin bestand die Unübersetzbarkeit des Titels „Die Chausseen der Dichter“ ins Englische?
Einige Verse aus Peter Huchels Gedicht „Dezember 1942“:

Wie Wintergewitter ein rollender Hall.
Zerschossen die Lehmwand von Bethlehems Stall…

Drei Landser ziehen vermummt vorbei.
Nicht brennt ihr Ohr von des Kindes Schrei…

Vor Stalingrad verweht die Chaussee.
Sie führt in die Totenkammer aus Schnee.

Das Titelgedicht des Huchel-Bandes beginnt:

…Chausseen. Chausseen.
Kreuzwege der Flucht.

In einem anderen Gedicht heißt es:

Zerschossene
Schläfe des Dorfs…

Vor mir
In schmerzender Helle
Die stinkende Wunde der Chaussee…

Und das Gedicht „Bericht des Pfarrers vom Untergang seiner Gemeinde“ endet:

O öde Stadt, wie war es spät,
Es gingen die Kinder, die Greise
Auf staubigen Füßen durch mein Gebet.
Die löchrigen Straßen sah ich sie gehn.
Und wenn sie schwankten unter der Last
Und stürzten mit gefrorener Träne,
Nie kam im Nebel der langen Winterchausseen
Ein Simon von Kyrene.

Erfahrungen, die sich für Peter Huchel und Millionen Deutsche, die den Überfall auf die Sowjetunion und seine Folgen überlebten, mit dem Wort „Chaussee“ verbanden und verbinden.
Den Titel „Die Chausseen der Dichter“ zu übersetzen, scheiterte nicht daran, daß man im Englischen für „Chaussee“ nur das im Großen Oxford-Duden als veraltet apostrophierte „highroad“ kennt, im Amerikanischen nur „highway“, die Übersetzung scheiterte an den Vorstellungen, die diese Wörter bei Engländern und Amerikanern hervorrufen. Ich habe mir von einem Engländer sagen lassen, daß er, wenn er „highroad“ hört, an eine mittelalterliche Landstraße denkt, an der die Wegelagerer die herrschaftlichen Kutschen zu überfallen pflegten und die Fuhrwerke der Händler ausraubten. Am Wort hängt Geschehen, hängen Geschichten, hängt Geschichte, sie lagern sich an das Wort an.
Der Londoner Verleger entschloß sich deshalb, für die englische Ausgabe einen anderen Titel zu wählen, und da in dem Buch der Hölderlin-Vers zitiert wird „…und wozu Dichter in dürftiger Zeit“, entschied er sich für den Titel „In dürftiger Zeit“. Das Englische bietet für das Wort „dürftig“ zahlreiche Begriffe, aber es existiert kein Wort, das dem entspräche, was Hölderlin mit „dürftig“ meint. Die gängige englische Übersetzung des Verses „…und wozu Dichter in dürftiger Zeit“ lautet „…and what use are poets in time of need“ (und was nützen Dichter in Zeiten der Not).

Unvorstellbar, daß Hölderlin die Bedeutung des Dichters in Zeiten der Not in Frage gestellt hätte. „In time of need“ ist nicht nur eine unzutreffende, sondern eine den Dichter Friedrich Hölderlin zutiefst verkennende Übersetzung. Nach dem Gedicht „Brot und Wein“, dem der Vers entnommen ist, sind für Hölderlin jene Zeiten dürftig, die kein „kühneres Leben“ erlauben, in denen für die Menschen „das Größere zu groß“ geworden und somit es besser ist, „zu schlafen, wie so ohne Genossen zu sein“, mit denen man aufbrechen könnte „zu höchsten Freuden“. Hölderlin empfindet Zeiten als dürftig, in denen der Dichter vergebens ruft: „So komm! Daß wir das Offene schauen,/ Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.“
Aus dem Titel „Die Chausseen der Dichter“ wurde der Titel „In dürftiger Zeit“, und der Titel „In dürftiger Zeit“ mutierte zu „In Zeiten der Not“.
Nehmen wir an, die Völker der Erde kämen überein, zugunsten des Englischen auf ihre eigenen Sprachen zu verzichten, und ihre mitunter jahrhundertealten Literaturen wären eines Tages nur noch in englischer Übersetzung zu lesen – was an menschlichem Ausdruck und Ausdruck des Menschlichen, was an unverzichtbarer Erinnerung ginge verloren! Das hat nichts mit Englisch als Sprache zu tun, auf welche Sprache die Völker sich auch einigten, in keiner wäre es anders.
Der tschechische Schriftsteller Milan Kundera, der seit Jahrzehnten in Paris lebt und seine Bücher inzwischen auf französisch schreibt, äußerte über eine 1975 im tschechoslowakischen Untergrund erschienene Gedichtsammlung seines Landsmannes Jan Skácel: „Skácels Verse sind…eine unglaubliche Verbindung von höchstmöglicher Einfachheit und tiefstem, absolut originärem Denken. Trotz seiner Einfachheit (oder eben deswegen) ist Skácel einer der am schwersten zu übersetzenden Dichter. Jedes seiner Gedichte durchlebt den Schwindel über dem etymologischen Abgrund, der in den einzelnen tschechischen Wörtern verborgen ist; Skácel fragt sich, was diese Wörter bedeuten, was sie bedeuteten, was sich in ihnen an Vergessenem verbirgt. Seine Poesie ist ein Beweis dafür…, daß die tschechische Sprache unersetzbar, daß sie ein Zauberwert ist… (In diesem Sinn erinnern mich Skácels Verse entfernt und indirekt an Heidegger. Er läßt zuweilen das Deutsche für sich selbst philosophieren; seine Meditationen sind oft nichts anderes als ein langer Blick auf den etymologischen Grund der deutschen Wörter, und er ist deshalb außerhalb der deutschen Sprache undenkbar.)“
Ohne die deutsche Sprache könnte die Menschheit manches nicht denken, das zu denken menschenmöglich ist, und ohne das Tschechische nicht bestimmte, nur dieser Sprache vorbehaltene Poesieerfahrungen machen. Bei einer Diskussion im böhmischen Karlsbad kamen wir darauf zu sprechen, wie man auf tschechisch sagt „Wort ist Zeichen“ (die Frage stellte sich im Zusammenhang mit Sartres Unterscheidung zwischen der Dinglichkeit des Tons in der Musik und der Zeichenhaftigkeit der Sprache). Das Tschechische kennt verschiedene Wörter für „Zeichen“, z.B. in Wendungen wie „zum Zeichen, daß…“ oder „im Zeichen des Löwen“, für das typographische oder orthographische Zeichen, doch die Übersetzung von „Wort ist Zeichen“ bereitete den Karlsbader Gesprächspartnern erhebliche Schwierigkeiten. Als ich Milan Kundera, der damals noch in Prag lebte, davon erzählte, sagte er, dem Tschechischen gingen viele dieser Abstrakta ab, weshalb auch Kant noch nicht komplett übersetzt sei. Verständlich, wenn man bedenkt, daß nach der Schlacht am Weißen Berg 1620 in Böhmen eine Germanisierung einsetzte, die die tschechische Sprache für zweihundert Jahre in die Gesindestuben verbannte, wo sie vorwiegend in Liedern, Gedichten, Märchen und Mythen überdauerte.
In Jan Skácels Gedicht „Berührungen“ gibt es einen unübersetzbaren Vers über das Lieschgras. Auf tschechisch heißt das Lieschgras „bojínek“, und das bedeutet „kleiner Ängstling“. Wörtlich übersetzt lautet der Vers „Es ängstigt sich ängstigt sich der kleine Ängstling“. Im Original hört man das verängstigte Gras leis vor sich hinweinen: Bojí se bojí bojínek.
Eine Spanierin schrieb an den Deutschen Sprachrat über das Wort „Fernweh“: „Dieses Wort ist für mich das schönste deutsche Wort, weil es das Wort ist, das ich lebenslang gesucht habe. Bis ich angefangen habe, Deutsch zu lernen, habe ich dieses Gefühl nicht benennen können. Es ist komisch, etwas zu spüren und kein Wort dafür zu haben.“
Jede Sprache verfügt über Ausdrucksmöglichkeiten, die allein ihr eigen sind, und die Gesamtheit dieser Ausdrucksmöglichkeiten ergibt den Sprachhorizont der Menschheit.
In den traditionellen afrikanischen Gesellschaften sei die Zeit „eine Abfolge von Ereignissen, die sich begeben haben, gerade erst stattfinden oder kurz bevorstehen“, berichtet der in Kenya geborene Religionsphilosoph John S. Mbiti. Der lineare Zeitbegriff im westlichen Denken mit unbegrenzter Vergangenheit, flüchtiger Gegenwart und unendlicher Zukunft sei der afrikanischen Mentalität völlig fremd. Die Zukunft scheide praktisch aus, da in ihr liegende Ereignisse nicht stattgefunden haben, unverwirklicht sind und daher keine Zeit darstellen könnten. Wenn Afrikaner Zeitrechnungen anstellen, geschehe das „zu einem konkreten Zweck in Verbindung mit bestimmten Ereignissen“. Der Philosoph weist dieses Zeitempfinden am Wortschatz afrikanischer Sprachen nach. Neben Begriffen für „gestern“, „vorgestern“ und „früher“ kenne die Sprache der Kamba und Kikuju in Kenia lediglich Wörter für „in etwa zwei bis sechs Monaten, innerhalb einer kurzen Zeitspanne, …gerade vor sich gehend, …ungefähr innerhalb der vergangenen Stunde“ und „von der Zeit des Aufstehens bis etwa zwei Stunden“. Das Sprachgefühl der Koreaner wird maßgeblich von Wahrnehmungsverben bestimmt, die, so die Übersetzerin Hoo Nam Seelmann, ein Geschehen ausdrücken, das mühelos anmutet. Statt „Ich sehe die Blume“ sage man gern „Die Blume bietet sich den Augen dar“. Nach Seelmann steht hier die Welt mit dem Menschen „durch bloßes Dasein“ im Austausch. Nicht erst der Mensch stellt die Verbindung her, sondern die Natur selbst, und zwar „ohne aufdringlich zu sein“. In der koreanischen Tradition wird das Weltverhältnis als etwas gedacht, das jenseits des individuellen Wollens liegt. Deshalb meiden Koreaner auch Festlegungen, was sich ebenfalls in der Sprache niederschlägt. Verbendungen halten die Dinge in der Schwebe. Auf die Frage, ob etwas wirklich so gewesen sei, lautet die übliche Antwort „Es sieht so aus, als sei es so gewesen“. Selten erhält man eine klare Antwort wie „ja“ oder „nein“. (Bei Reisen nach Ostasien oder als Gastgeber eines lieben koreanischen Besuchs stellt uns, meine Frau und mich, diese Mentalität gelegentlich vor Probleme.) Seelmann weist darauf hin, daß dieses Sichzurücknehmen gegenüber dem Gesprächspartner in Korea als höflich gilt, da man die eigene Meinung dem anderen nicht aufdrängt.

Meine Damen und Herren, keine Errungenschaft des homo sapiens dürfte in ähnlicher Weise identitätsgesättigt sein wie die Muttersprache.
Der Schweizer Historiker, Schriftsteller und Diplomat Carl Jacob Burckhardt übermittelte uns ein Credo seines Lehrers Otto von Greyerz, mit dem ihn „eines…unlöslich“ verbunden habe, „die Liebe zur deutschen Sprache“. Das Credo besagt, jede Generation sei verantwortlich für die Lebenskraft der Sprache, in deren Veränderungen sie sich, wie durch keinen anderen Vorgang, selbst darstelle und richte.

Die Inhaberin des Lehrstuhls für Klassische Philologie an der Universität Münster, Christine Schmitz, verglich die im Berliner Schulbuchverlag Cornelsen erschienenen Klassikerbearbeitungen des Studiendirektors Diethard Lübke mit den Originaltexten und kam, wie sie schreibt, „aus dem Staunen nicht heraus“. In Gottfried Kellers Novelle „Kleider machen Leute“ darf der Gastwirt nicht mehr „wacker“ sein, „wacker“ wird ersetzt durch „ehrlich“. Statt „daß dergleichen in dieser Stadt…nicht angeht“ heißt es „daß so etwas in dieser Stadt…nicht möglich ist“, und anstelle von „dazu trank er den Wein in tüchtigen Zügen“ lesen wir „dazu trank er den Wein, ohne das Glas abzusetzen“. „Schalkhaft“ wird zu „lustig“, „durchtrieben“ zu „pfiffig“, „demütig“ zu „unterwürfig“. Allein in diesen wenigen Beispielen wird der Wortschatz der Schülerinnen und Schüler um die Begriffe „wacker“, „dergleichen“, „angehen“, „tüchtige Züge“, „schalkhaft“, „durchtrieben“ und „demütig“ verringert, ganz zu schweigen vom Verlust an Wendungen wie „es geht nicht an“ oder von inhaltlichen Verfälschungen wie das Ersetzen des Wortes „demütig“ durch „unterwürfig“.
Der Philologe Robert Mildenberger schrieb in der Zeitung „Deutsche Sprachwelt“: „Ein Kulturverband wird durch einen gemeinsamen, über die persönliche Lebensgrenze der Kulturträger räumlich und zeitlich hinausgehenden verbindlichen geistigen Besitz konstituiert. Bildung bedeutet die Fähigkeit, an diesem geistigen Besitz selbständig und unmittelbar teilzuhaben… In dem Augenblick, in dem wir uns von unserer Hochsprache verabschieden, beginnen Kant und Des Knaben Wunderhorn zu verstummen.“
Von der Hochsprache verabschiedet man sich vornehmlich dadurch, daß man sich von ihren Wörtern verabschiedet.

Und. wir lassen es nicht dabei bewenden. Eine Gymnasialprofessorin aus dem österreichischen Judenburg, die nach dem Ausscheiden aus dem Schuldienst nochmals ein Studium begonnen hat, schreibt mir: „Ich besuche zur Zeit die Vorlesung eines Professors aus Triest, der auch Dolmetscher für Deutsch und Italienisch ist…und uns fast in jeder Stunde seine Erschütterung über die Aushöhlung der deutschen Sprache kundtut… Dieser Professor sagt, daß es zu einem regelrechten Ausmerzen jener Wörter komme, die ein Werturteil bedeuten. Das Wort „Hochdeutsch“ oder „Hochsprache“ dürfe bei Übersetzungen nicht mehr verwendet werden. Dafür sei „Standardsprache“ einzusetzen.“
Verwundert es da noch, wenn, wie die „Deutsche Sprachwelt“ berichtete, ein junger Deutschlehrer sagt: „Ich glaube nicht, daß die deutsche Sprache etwas so Bedeutendes darstellt, daß man sie unbedingt erhalten müßte.“
Gestörter kann das Verhältnis zur eigenen Sprache nicht sein. Wir verabschieden uns nicht nur von der Hochsprache, sondern auch von uns selbst.
Wer das Wort „demütig“ streicht, weil er meint, es werde von jungen Menschen nicht mehr verstanden, nimmt ihnen die Chance, sich bewußt zu werden, daß etwas verlorengegangen ist – das nämlich, was das Wort benennt, die Demut. In der Klassikerausgabe des Cornelsen-Schulbuchverlages wird das Wort zudem ersetzt durch „unterwürfig“, Demut also gleichgesetzt mit etwas Verächtlichem. Demut, die Selbstbescheidung des Menschen, ist aber ein wesentliches Attribut seiner Würde.

Der Abschied von der Hochsprache geht einher mit dem Abschied vom Humanen.
Je gestörter das Verhältnis zur eigenen Sprache ist, desto schutzloser ist sie.

Schreibe ich, wie die Reformer es verlangten, in dem Satz „Du hast nicht recht“ das Wort „recht“ groß, handelt es sich gewiß um einen Satz aus deutschen Wörtern, aber nicht mehr um einen deutschsprachigen Satz. Kein muttersprachlicher Deutscher sagt „Du hast nicht Freude“ oder „Du hast nicht Geduld“, sondern „Du hast keine Freude“, „Du hast keine Geduld“. Der Satz kann also, soll er ein deutschsprachiger Satz bleiben, nur lauten „Du hast kein Recht“, was selbstverständlich etwas anderes bedeutet als „Du hast nicht recht“. Sobald ich lehre, es sei richtig, in dem Satz „Du hast nicht recht“ das Wort „recht“ groß zu schreiben, heble ich das Sprachgefühl aus, das sich seit mehr als einem Jahrhundert herausgebildet hat. Der Rat für Rechtschreibung erlaubt neuerdings Groß- und Kleinschreibung. Der Duden empfiehlt, „recht haben“ klein zu schreiben, nach dem Wahrig-Wörterbuch soll groß geschrieben werden, und das Schweizer Handbuch „Die wichtigen Rechtschreibregeln“ erweckt den Anschein, es gelte nach wie vor nur die Großschreibung.

Abgesehen vom Chaos, die Sünde besteht darin, daß die intuitive, vom Regelwissen unabhängige Sprachkompetenz außer Kraft gesetzt wird, und diese Sünde ist unverzeihlich, denn einem Kind kann im Hinblick auf die Muttersprache nichts Verunsichernderes widerfahren.

(Einfügung:
In einem Brief der Niedersächsischen Staatskanzlei vom 7. August dieses Jahres heißt es: „Mit den Beschlüssen der Kultusminister- und der Ministerpräsidentenkonferenz vom März 2006, die Empfehlungen des Rates für deutsche Rechtschreibung anzunehmen, konnte endlich wieder Ruhe und Verbindlichkeit in die Rechtschreibung einkehren.“ Wann endlich wird man aufhören, den Staatsbürgern Staatssand in die Augen zu streuen!)

Substantive, die als Adverbien (Umstandswörter) gebraucht werden, schreibt man im Deutschen klein. In „vor kurzem“, was, wie jeder weiß, „kürzlich“ bedeutet und nicht „vor etwas Kurzem“, darf „kurzem“ groß geschrieben werden. In den Wendungen „im allgemeinen“, „im einzelnen“ oder „des weiteren“ gilt nur Großschreibung als richtig. In „nicht im geringsten“ muß groß geschrieben werden, in „nicht im mindesten“ ist jedoch auch Kleinschreibung erlaubt. Wie schreiben Sie, wenn in „gestern nacht“ „Nacht“ groß geschrieben werden muß, „gestern früh“? Klein ist ebenso richtig wie groß. An die Stelle einer einfachen Regel ist Willkür getreten, womit erreicht wird, was in den Anfängen der Reformbewegung als eines ihrer Ziele proklamiert wurde – die „Deregulierung“ der Hochsprache, damals „Herrschaftssprache“ genannt.

In einer Sitzung der Schweizer Orthographischen Konferenz erläuterte der Lehrer Stefan Stirnemann, wie durch Großschreibung von Adverbien Bedeutungsunterscheidungen verlorengehen. In Thomas Manns „Doktor Faustus“ heißt es: „Und doch ist es für das höhere Individuum auch wieder ein großer Genuß, einmal mit Haut und Haar im Allgemeinen unterzugehen.“ Hier geht das Besondere im Allgemeinen unter – keine Frage, daß beides groß geschrieben werden muß. Wenn dagegen in einem Satz des Sprachforschers Hermann Paul von „Konstruktionsweisen“ die Rede ist, die „im allgemeinen untergehen“, bedeutet „im allgemeinen“ „meistenfalls“ und muß, will man Irritation oder Mißverstehen vermeiden, klein geschrieben werden, was nicht mehr erlaubt ist.
Man hat zwar eingestanden, daß die Rechtschreibreform „falsch“ war, aber im gleichen Atemzug wissen lassen, daß man die Sprache für ein minderwertigeres Gut hält. Wie wir aus berufenem Mund erfahren durften, hat die Sprache hinter der Staatsräson zurückzustehen, und so gibt es offensichtlich keinerlei Veranlassung, staatlicherseits am gegenwärtigen Zustand etwas zu ändern. Die Kinder der gesamten Sprachgemeinschaft wird wissentlich sprachlich Falsches gelehrt. Die Erkenntnis, daß Vergehen an der Muttersprache Vergehen an der Menschheit ist, scheint noch nicht ins Bewußtsein der politisch Verantwortlichen gedrungen zu sein.

Kurz vor der verbindlichen Einführung der neuen Rechtschreibung sagte eine Kultusministerin im persönlichen Gespräch, die Reform werde wie vorgesehen kommen, und was danach an den Schreibweisen geändert werde, interessiere sie nicht mehr. Die leitende Lektorin für Deutsch als Fremdsprache eines weltweit agierenden staatlichen Instituts äußerte zur gleichen Zeit im Rundfunk, ihr sei es völlig egal, wie man was schreibt, sie wolle nur wissen, was amtlich als richtig gilt.
Wo Menschen mit dieser inneren Bindung an die eigene Sprache regieren und redigieren, ist das, was eine Sprachgemeinschaft von hundert Millionen Menschen in hundert Jahren an Sprachgefühl entwickelt und an Sprachintelligenz investiert hat, auslöschbar auf dem Amtsweg.

„Tröstlich ist“, schreibt Robert Mildenberger, „daß wir schon mehrere kulturelle Eiszeiten überlebt haben: Nach einer über hundertjährigen Unterbrechung standardsprachlicher Literatur entstand in der Stauferzeit auf der Basis des Alemannischen wieder eine deutsche Literatursprache; nach der…Alternative zwischen Barbarei und Franzosentum erwachte im 17. Jahrhundert wieder das Interesse an der deutschen Sprache in Form von Sprach -und Dichtungsgesellschaften.“

Ich freue mich, daß ich diese Rede vor der Neuen Fruchtbringenden Gesellschaft zu Köthen/Anhalt halten durfte. Möge sie sich von jenen Sprachgesellschaften abheben, die in jüngster Vergangenheit auf so fatale Weise versagt haben.
Kollegen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt gaben einer Schrift über den Orthographiestreit den Titel „Niemand hat das letzte Wort“. Niemand vielleicht, aber eine schon, die Sprache – vorausgesetzt, daß man ihr das letzte Wort läßt.

Ich danke Ihnen.

Zwei Hinweise der Herausgeber:
Reiner Kunze und Mireille Gansel, Die Chausseen der Dichter, Ein Zwiegespräch über Peter Huchel und die Poesie (RADIUS-Verlag, Stuttgart 2004)
Christine Schmitz, Goldschmiedekunst und –kennerschaft des Wortes, Vom Umgang mit klassischen Texten, in: Im Wundergarten der Sprache, Beiträge gegen die Rechtschreibreform. Festschrift für Herrn Dr. h.c. Reiner Kunze zur Verleihung des Preises 2004 der Stiftung für Abendländische Besinnung (STAB)

Vgl. http://www.reiner-kunze.com/

Wir danken Reiner Kunze für die Erlaubnis, seine Rede abzudrucken.

(Vorabdruck aus den SKD-Mitteilungen 3+4/2007, erscheinen Anfang November)

Das könnte dich auch interessieren …

Schreibe einen Kommentar