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Werden wir ein Volk von Analphabeten?
Der Aufschrei eines Bestsellerautors

Kaum ist – jedenfalls unter uns Schriftstellern – die sogenannte Rechtschreibreform vom Tisch (indem deren dümmliche Postulate von der Mehrzahl der Kollegen ignoriert werden), da gilt es auch schon die nächste Verirrung abzuwehren.. Und die ist, im Gegensatz zu jener, keine Quantité négligeable, sondern höchst dramatischer Natur.

Lassen wir Zahlen sprechen. Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat ermittelt:
Unser Vokabular umfaßt 300.000 bis 400.000 Wörter. Davon verwendet der Durchschnittsbürger zwischen 12.000 und 16.000: Tendenz sinkend.

Schreitet die Entwicklung so fort, wird man am unteren Ende der Skala bald bei jenen rund 2000 Wörtern angelangt sein, die dazu ausreichen, sich im „normalen“ Alltag verständlich zu machen.

Unsere Kommunikationstechniken werden laufend verfeinert, doch ihr „Stoff“ schrumpft und schrumpft. Man braucht nur den Gesprächen zu lauschen, die etwa in Fernseh-Talkshows unter jungen Menschen geführt werden:

Man könnte glauben, die deutsche Sprache bestehe nur noch aus einem Wort (und das ist nicht einmal deutsch): „Super.“ Daß es aus dem (im übrigen noch radikaler schwindenden) Lateinischen kommt, ist ein schwacher Trost: ein vereinzelter Irrläufer. Ein Wiener Zeitungskolumnist, um den Fortbestand der alten Sprachen besorgt, hat es höchst treffend das „Ein-Wort-Latein“genannt.

Besser steht es nur um die Infiltration des Englischen: Da haben wir immerhin die Wahl zwischen cool und okay, zwischen happy, power und event.

Sind wir längst im Begriff, ein Volk von Anaphabeten zu werden? Lauter kleine High-Tech-Genies, die sich nur noch stammelnd auszudrücken wissen? Ist denn noch keinem aufgefallen, daß sich die Katze anschickt, sich in den Schwanz zu beißen?

Es ist gewiß bewundernswert, mit welchem Elan in unseren Schulen der Einsatz der neuen Techniken gefördert wird – kein Wort dagegen! Nur -wie steht es um die Förderung des Lesens? Geht der rasante Wortabbau so weiter, hilft auch der beste Computer nichts mehr: Womit soll er denn dann noch gefüttert werden? Er ist ein segensreiches Transportmittel, das jedoch von dem Moment an auf Leerlauf zusteuert,, wo der Nachschub ausbleibt, und dieser Nachschub heißt: systematische Pflege von Wortschatz, Syntax, Sprachgefühl.Man kann es auch einfacher sagen: Lesen.

Was hilft es, daß das Gros der heute aktiven Schriftsteller, erfreulicherweise bis zur Verstocktheit resistent gegen die Tendenz zur allgemeinen Sprachverarmung, sich durch nichts auf der Welt (auch nicht durch das horrible Diktum eines ehemaligen österreichischen Unterrichtsministers, er habe einen „Horror vor schönen Sätzen“) davon abbringen läßt, die Möglichkeiten des deutschen Wortschatzes in vollem Umfang auszuschöpfen? Wird denn auch genug getan, ihnen Gehör zu verschaffen?

Literarurforderung wird hierzulande entweder als Alimentierung bedürftiger Autoren oder als Beitrag zur Minimierung ihrer Druckkosten verstanden. Wer aber sorgt sich darum, daß das gedruckte Wort auch an seine potentiellen Rezipienten gelangt?

Das Buch als Vehikel zweckfreier Beschäftigung mit Sprache, Sprachreichtum und Sprachschönheit gerät mehr und mehr ins Abseits, und ich fürchte, wir werden uns damit abzufinden haben.

Die Presse, Wien, 8.Jänner 2000, Gastkommentar von Dietmar Grieser

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