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Die Wissenschaft spricht nicht Deutsch

Es gab Zeiten, da sprach die Wissenschaft Deutsch. Natürlich nicht nur
Deutsch, darüber hätten sich Franzosen, Italiener und Engländer sehr
beschwert. Aber Deutsch war im 19. Jahrhundert eine große Wissenschaftssprache.

Heute ist sie auf dem absteigenden Ast, und Englisch dominiert die Welt des
Wissens. „Leider“, meint Konrad Ehlich. „Die Verdrängung der
Wissenschaftssprachen durch das Englische ist eine subtile Form der Zensur.“

Prof. Konrad Ehlich, Linguist, Ex-Vorsitzender des Germanistenverbandes
Ehlich ist Linguist, also Sprachwissenschaftler. Er war von 2001 bis 2004
Vorsitzender des Deutschen Germanistenverbandes, aber er ist keiner jener
Reinerhalter der deutschen Sprache, die jedes „Event“ und jedes „Meeting“,
das sich in unsere Muttersprache mogelt, verfluchen. Ehlichs Kritik an der
Dominanz des Englischen in der Wissenschaft wird auch in anderen
nicht-englischsprachigen Ländern gern gehört, denn eigentlich sind sie alle
gleichermaßen betroffen.

Betroffen zum Beispiel vom „science citation index“. Der wissenschaftliche
Zitationsindex gibt Aufschluss darüber, wie oft ein Forscher in
Fachzeitschriften zitiert wurde. „Im Wesentlichen sind das englischsprachige
Fachzeitschriften, der Index wird von privaten US-amerikanischen Firmen
erstellt. Wer keine Artikel in Englisch veröffentlicht, der wird
international gar nicht zur Kenntnis genommen“, so Ehlich. Selbst wenn sich
Deutsche, Franzosen, Japaner der Entwicklung anpassen und auf Englisch
schreiben, sind die Muttersprachler aus USA oder England immer noch im
Vorteil.

Schlimmer noch: „Unsere Bildungsbürokraten in Ministerien und Universitäten
orientieren sich selbst an solchen Messinstrumenten für wissenschaftliche
Leistung. Sogar Anträge im Rahmen der Exzellenzinitiative mussten auf
Englisch verfasst werden“, ärgert sich Ehlich.

Sein Plädoyer für die sprachliche Vielfalt in den Wissenschaften fällt
deutlich aus. „Wenn auf Tagungen und Kongressen nur noch Englisch gesprochen
wird, dann profitieren die Muttersprachler. Die anderen Referenten hampeln
sprachlich herum, ihnen fehlt meist die Rhetorik zum Parieren.“

Nach Ansicht des Linguisten brechen derzeit mit den Sprachen ganze
Wissenschaftskulturen weg. „Die wissenschaftliche Argumentation ist ein gutes
Beispiel dafür. Die ist in Fernost ganz anders als in Arabien oder in Europa.
Das lässt sich nicht so einfach vereinheitlichen.“

„Das ist keine Erbsenzählerei“

Die Wissenschaft verliere all jene Erkenntnisse, die nur schwer oder gar
nicht übersetzbar seien. „Es gibt im Englischen kein echtes Pendant für den
Begriff „Zusammenhang“. Ähnliches gilt für „Vermittlung“ und „Ursache“.

Den Einwand, dass das am Ende vielleicht nur Erbsenzählerei sei, lässt Ehlich
nicht gelten: „Die Wissenschaft lebt ja gerade von der Differenziertheit. Sie
muss präzise, detailliert und exakt sein, und zwar in allen Disziplinen. Das
gilt für die Literatur wie für die Naturwissenschaften.

Von Matthias Korfmann. Der Westen (WAZ) vom 29.Jan.2008

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