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BITZIUS
Porträtskizze des Dichters

Jeremias Gotthelf als junger Mann

“Diese Revolution hat die Vernunft begonnen, durchgeführt und beschlossen. Darum wird sie auch beschlossen bleiben. Sie ist ein neuer, schlagender Beweis gegen die, welche behaupten wollen, die Welt werde immer schlimmer und die Menschen immer verdorbener.“

Die Lage seines Zimmers machte ihn zu einer Art Mittelpunkt. Liberale holten Nachrichten, brachten Informationen. Aristokraten ebenfalls. Sie versuchten ihn auf ihre Seite zu ziehen. Wiederholt. Aber vergeblich.

Er war zum politischen Agitator geworden. Zum Tageskämpfer.

Aus Paris waren die Legionäre, die den Thron der Bourbonen verteidigt hatten, zurückgekehrt. Schweizer Söldner in zerschlissenen roten Uniformen. Bettlern gleich.

Das Patriziat konzentrierte Truppen in der Stadt und begann aus den Heimkehrern, den “Roten“, eine Garde zu bilden.

Zur Abwehr der drohenden Übergriffe durch die Aristokraten stellte die liberale Partei ebenfalls eine Garde auf, eine Bürgergarde, bei der er sich, obwohl im Dienst der reformierten Kirche stehend, zum Korporal ernennen liess.

Mit den Gesinnungsgenossen auf dem Land stand er in ständigem Briefverkehr.

Daneben erfüllte er seine vielfältigen Arbeitspflichten als Geistlicher: Predigen, Gemeindeseelsorge, Armenpflege, Religionsunterricht, Schulaufsicht.

“Hier machte ich einen praktischen Kurs in der Armenpflege durch und genaue Bekanntschaft mit dem Stadtgesindel.“

Bitzius. Albert. Dreiunddreissig Jahre alt. Vikar an der Heiliggeistkirche in Bern.

Bern. Die stolze Stadt. Einst Hauptstadt des mächtigsten Stadtstaates nördlich der Alpen.

1191 von den Zähringern an der Spitze eines langgezogenen Halbinselhügels gegründet, den die Aare in einer U-förmigen Schlaufe umfliesst.

Danach durch die Jahrhunderte hindurch organisch gewachsen. Dreimal mit einer neuen, von Flussufer zu Flussufer gebauten geraden Stadtmauer mit Stadttürmen gesichert.

Sandsteinhäuser. Aneinandergebaut. Wuchtig. Mehrgeschossig. In Reihen geordnet. Mit Innenhöfen. In den Erdgeschossen Arkaden, die hier Lauben genannt werden. Durchgehende, gegen die Strasse zu offene, nicht enden wollende Tunnel. Breite Längsgassen. Schmale Quergässchen.

Sein Zimmer, die Nachrichtenzentrale, befand sich in der Wohnung des Amtsinhabers der nach der Münstergemeinde zweitwichtigsten Kirchgemeinde der Stadt, der oberen Stadtgemeinde zum Heiligen Geist. An der Spitalgasse. Nummer vierundzwanzig. Sonnseite.

Sein Vorgesetzter, der alte Pfarrer Samuel Wyttenbach, ein Vertreter der Aufklärungsgeneration und Anhänger des altbernischen Protestantismus, war am 22. Mai 1830 gestorben. Ein Jahr nachdem der Vikar seine Stelle bei ihm angetreten hatte.

Danach begannen die Strassenschlachten in Paris. Die Juli-Revolution.

Seither brodelte es auch hier wieder. In Bern.

Die Hauptstadt musste einsehen, dass sie als Regent des Landes ausgespielt hatte. Dass der Untergang des alten Bern endgültig war.

Dies fiel den Herren des Ancien Régime schwer.

Obwohl es ab der Gründung der Eidgenossenschaft 1291 auf ihrem Territorium nie eine Monarchie gegeben hatte, war in der Republik des Berner Stadtstaats eine Oberschicht entstanden, das Berner Patriziat, das die Fürstenkrone im Wappen zu führen begann und seinem Schultheissen einen Thron errichtete.

Die Aufklärung und die Französische Revolution hatten der feudalen Herrschaft ein Ende gesetzt.

Die französischen Revolutionstruppen hatten den Stadtstaat und mit ihm den Rest der Schweiz erobert, den Berner Staatsschatz nach Paris gebracht, die Eidgenossenschaft vereinheitlicht und nach französischem Vorbild in die Helvetische Republik umgeformt.

Aber die Schweiz war nicht zur Ruhe gekommen. Die Kämpfe zwischen alter und neuer Ordnung waren weitergegangen.

Nach den Stürmen und Wirren der Helvetik war es den Aristokraten, den Reaktionären, den Konservativen gelungen, die Macht noch einmal zurückzuerobern. Die Volksrechte wieder einzuschränken. Die alten Zustände zu restaurieren.

Jetzt stand erneut ein Umsturz bevor.

Die Schweiz, der Kanton Bern, die Stadt Bern mussten regeneriert werden. Die Liberalen, die Demokraten mussten der Volkssouveränität endgültig zum Sieg verhelfen.

Und ausgerechnet jetzt musste er die Stadt verlassen.

Musste sich in die Einsamkeit begeben. In die Verbannung. In die Abgelegenheit des Emmentals.

Er war inzwischen der älteste Vikar des Kantons.

Und nun versetzte man ihn noch einmal. Zum ältesten Pfarrer des Kantons. Zum Nestor der bernischen Geistlichkeit. Zu Albrecht Fasnacht, einem fast neunzigjährigen, von senilem Verfolgungswahn befallenen Greis.

Lützelflüh galt als eine der härtesten bernischen Pfarreien. Eine Einzelhofgemeinde.

Rings um die Kirche und die gedeckte Holzbrücke über die Emme gab es ein paar Läden, ein Wirtshaus, Dorfhandwerker. Das erhöht auf einer Hangstufe ober-halb des Flusses liegende Kirchdorf.

Die übrigen Einwohner verteilten sich auf eine Unzahl kleiner Weiler und Höfe in weitläufigen Gräben, an steilen Hängen, auf einsamen Eggen.

“Meine Gemeinde stösst an 13 Kirchgemeinden, hat übers Kreuz nach allen 4 Winden 5 Stunden von den äussersten Punkten bis zu den andern.“

In der Stadt, die sich seit Monaten in Aufruhr befand, wollte man ihn nicht mehr.

Er hatte seine Arbeit als Vikar so ehrenvoll und gewissenhaft ausgeführt, wie er konnte.

Besonders bei den Kanzelpredigten hatte er dem Stadtpublikum sein Bestes zu geben versucht.

Aber seine Stimme hatte Mühe gehabt, die imposante Säulenhalle zu füllen. Beim freien Formulieren stockte er. Sein Sprachfehler störte.

“Ich bin nie ein tüchtiger Prediger gewesen. Es fehlen mir besonders die physischen Anlagen dazu.“

Die Heiliggeistkirche war der Repräsentationsbau des altbernischen Protestantismus. Der prächtigste protestantische Kirchenbau der Schweiz.

Die Hauptkirche Berns war jedoch das Münster in der Mitte der Stadt, das noch in der vorreformatorischen Zeit als mächtige Kathedrale gebaut worden war.

Nach der Reformation wurde das Münster zur geistlichen Machtzentrale des Staates Bern, und die Kirchenregenten residierten in seiner unmittelbaren Nähe. In der Herrengasse.

Für die Besetzung der vakant gewordenen Amtsstelle in der Heiliggeistkirche übergingen die Kirchenregenten den Vikar. Als Nachfolger für den alten Aufklärer Wyttenbach wählten sie nicht den aufmüpfigen jungen Mann, sondern Samuel Lutz. Den Betreuer der Pfarrei Wynau. Einst sein verehrter Lehrer am bernischen Gymnasium.

Wieder hatte er eine Niederlage erlitten. Eine Vertreibung. Eine Zurücksetzung.

Die Stadtgemeinde war bereits seine dritte Vikariatsstelle.

Nach Utzenstorf und Herzogenbuchsee.

Lützelflüh würde die vierte werden.

Sein ausgeprägtes Rechtsgefühl, seine Empfindlichkeit, seine Verletzbarkeit, die man ihm wegen der körperlichen Robustheit nicht ansah, trieben ihn zum Widerspruch, zur Auflehnung.

Die Erregungen trugen ihm den Ruf eines gefährlichen politischen Hitzkopfs ein.

Entlassungen waren die Folge. Versetzungen.

In Herzogenbuchsee war der Grund dafür sein Streit mit Effinger gewesen. Oberamtmann Effinger. Von Effinger. Rudolf Emanuel.

Der aufmüpfige Vikar hatte sich für bessere Schulen eingesetzt. Der aristokratische Oberamtmann für neue Strassen.

“Es ist recht lächerlich, wie die Herrn in Trab sich setzen, wenn ein armer Teufel zu hudeln ist. Wo ich Freude hatte an der Arbeit, da muss ich weg, und auf eine Art weg, welche das Schmerzliche des Scheidens noch vermehrt. Aber zum ruhigen Ertragen der despotischen Teufelsucht, die kein Mittel, sogar die Lüge nicht scheut, um den zu verderben, der sich ihr gehässig gemacht, werde ich es nicht bringen.“

Die Pfarrei Amsoldingen bei Thun, die man ihm als Ersatz für Herzogenbuchsee anwies, hatte er nie betreten. Ein Freund aus der Studienzeit, der als Aktuar des Kirchenkonvents arbeitete, hatte ihm zur Berufung nach Bern verholfen.

Die schmerzlichste Trennung war die von Utzenstorf gewesen. Ausgelöst durch den überraschenden Tod des Vaters.

Das Vikariat im Elternhaus war sein erstes gewesen und hätte sein einziges bleiben sollen.

Er hatte das Bauerndorf in der weiten Ebene am Unterlauf der Emme geliebt. Die Pfründe, das Pfarrhaus, die Scheune, die Bauern. Vater und Sohn hatten gut zusammengearbeitet. Der Sohn hatte es trotz seines jugendlichen Alters zustande gebracht, dass die Gemeinde den Bau eines neuen Schulhauses beschloss.

Utzenstorf war seine Kindheit.

Nach den acht Jahren, die er im mittelalterlich geprägten Städtchen Murten am See verbracht hatte, wo er als Sohn des reformierten Pfarrers Sigmund Bitzius und dessen dritter Frau Elisabeth Kohler geboren worden war, hatte der Vater nach Utzenstorf wechseln müssen, weil Murten in der von Napoleon neu geformten Eidgenossenschaft ganz an das katholische Freiburg übergegangen war.

Seine Stiefschwester Marie, die Tochter des Vaters aus dessen erster Ehe, war siebzehn Jahre alt gewesen. Sein Bruder Fritz sechs.

Aus einem städtischen Pfarrhaus kam man in einen ländlichen Pfarrhof im Stil eines Herrenhauses zu dem ein Bauerngut gehörte.

Aus dem Pfarrersohn wurde ein halber Bauernsohn.

Er kannte das Bauernleben wie die Bauernkinder. Übte sich in allen Landarbeiten und brachte es in mehr als einem ländlichen Spiel zu bedeutender Fertigkeit. Er trieb Schafhandel. Lernte jagen. Fischen. Wurde ein wilder Reiter.

Immer wieder musste er reiten. Lospreschen. Drauflosreiten. Sich ausreiten. Allein. In Gesellschaft. Jagdausritte in die ausgedehnten Wälder zwischen den Dörfern. Ausritte in die Ebene hinaus. Lange Ritte bis in den Jura hinein. Auf den blauen Berg hinauf.

Ab seinem vierzehnten Lebensjahr dann die acht Schuljahre in Bern. Sein erster Kontakt und seine längste Erfahrung mit der Hauptstadt.

Das obere Gymnasium. Dann die Akademie. Die drei Jahre „Philosophie“. Die drei Jahre „Theologie“.

Der Geist der deutschen Aufklärung.

Daneben das burschenschaftliche Treiben. Der „Montagsverein“. Die „Vaterländische Turngemeinde“. Die „Literarische Gesellschaft“. Die Berner Sektion des neu gegründeten nationalen Studentenvereins „Zofingia“. Das hauptstädtische Gesellschaftsleben. Namentlich das in weiblicher Gesellschaft. Die Rosenzeit seines Lebens.

Die romantisch-patriotische Begeisterung, die in Bern herrschte.

Die Studentendemonstration gegen die Wahl des Frömmlers Stapfer zum Professor, die zum Radau ausartete.

Schreibversuche. Ernsthafte Erzählung eines lustigen Tages oder Der bestiegene und wieder verlassene Gurten.

Die Freude am Schule geben. Das Unterrichten in der obersten Elementarklasse an der „grünen Schule“. Dem Untergymnasium. Wo die Schüler grüne Kleider trugen. Anderthalb Jahre lang.

Dazwischen Schwermut. Gefühle der Sinnlosigkeit.

In Bern wohnte er bei einem Onkel, dem Theologieprofessor Samuel Studer. In den Ferien fuhr er heim nach Utzenstorf.

Mit dreiundzwanzig Jahren das geistliche Examen und die Konsekration.

Der Beginn des Vikariats beim Vater. Daheim in Utzenstorf.

Neun Monate später das Jahr in Göttingen. Das deutsche Studienjahr. Dem Brauch gemäss. An einer der von den Berner Theologen bevorzugten deutschen Aufklärungshochschulen. Dort, wo der Berner Albrecht von Haller sich einst im Weltruhm gesonnt hatte.

Die mit Ludwig Fankhauser, dem Ludi, dem Sohn eines Burgdorfer Handelsherrn, geteilte Studentenbude.

Vor allem aber das Reisen. Die Hinreise, die ganze vierzehn Tage dauerte. Und die noch längere Rückfahrt über Weimar, Leipzig, Dresden und München.

Dazwischen die Ausflüge während des Semesters in die nähere und weitere Umgebung. Der Ritt nach Bad Pyrmont.

Als absoluter Höhepunkt des ganzen Jahrs aber die allein unternommene grosse Semesterferienreise ans Meer. Durch die Lüneburger Heide nach Hamburg. Dann an die Ostsee. Auf die Insel Rügen.

Die Briefe, die er an seine Schwester geschrieben hatte.

Und das Tagebuch. Der Reisebericht.

Keine zwei Jahre danach der Tod des Vaters.

Der Vater war siebenundsechzig Jahre alt gewesen.

Er siebenundzwanzig.

Die Utzenstorfer hätten ihn als Nachfolger behalten wollen. Aber er hatte nicht genug Vikariatsjahre. Dreieinhalb statt der vorgeschriebenen fünf.

Zum Abschied schenkten sie ihm eine goldene Repetieruhr.

Die Familie hatte sich auflösen müssen. Ihr Heim verloren. Ihre Zusammengehörigkeit.

Die Mutter und die Schwester waren nach Bern gezogen. Fritz hatte die Schweiz verlassen. Sich in Frankreich als Söldner verdingt. Er, Albert, hatte zur Fortsetzung seines Vikariats in das fremde Pfarrhaus im benachbarten Herzogenbuchsee ziehen müssen.

Die Herzogenbuchseezeit war die wildeste Zeit geworden, die er durchlebt hatte.

Da war das an Männern interessierte Pfarrerstöchterchen gewesen. Sophie Hemmann. Der blonde Engel.

Und andere Frauen.

Die Frauen. Immer wieder die Frauen.

Sie zogen ihn an.

Wie schon in Bern. In den Gassen in der oberen Stadt und unten in der Matte. Im Mattenquartier. Berns Hafenviertel an der Aare. Am Fuss der hochaufragenden Münsterplattform.

Wie dann auch in Göttingen. In Bad Pyrmont. In Hamburg.

Er hatte sein Zimmer im Pfarrhaus in Herzogenbuchsee nachts über eine Leiter verlassen. Sich alte Kleider angezogen. Einen Hut. Versteckt gelegene Strauchpinten aufgesucht. Getrunken. Karten gespielt.

Seine Rache für den Verlust von Utzenstorf. Seines Heims. Seiner Familie.

Er hätte Nachfolger seines Vaters in Utzenstorf werden wollen.

Aber er hätte kein streng orthodoxer Geistlicher wie sein Vater werden können. Er sah es ein. Seine Natur war anders.

Er wollte und musste dem verfluchten Schlamm der Theologen entkommen

Den Herrengasseherren. Den Verwaltungsbeamten des Christentums. Den Kirchenregenten, die über die Versetzungen und über die Vergabe von Pfründen und Pfarreien entschieden.

Sie waren dafür verantwortlich, dass sein Vater, als er von Murten nach Utzenstorf hatte ziehen müssen, keine angemessene Entschädigung erhalten hatte.

Und sie hatten auch ihn, als der Vater gestorben war, in Utzenstorf um sein Erbe gebracht.

Um das, was der Vater und er dort aufgebaut hatten.

Den Pfarrhof, den Gutsbetrieb, die Pfründe.

Die ständigen Zurücksetzungen hatten in ihm, der selber aus einer einst regimentsfähigen Stadtberner Patrizierfamilie stammte, eine tiefe Abneigung gegen das Patriziat entstehen lassen,

“Ich gestehe aufrichtig, ich hasse das Patriziat, das mit Krokodilstränen jetzt die armen Bürger fängt. Mein Vater war mir ein trauriges Beispiel, wie man ehrliche Bürger beachtete. Seine Behandlung, die ihm um Jahre das Leben verkürzte, vergesse ich nie.“

Das Volk wollte eine neue Verfassung, eine neue Regierung. Eine Volksregierung.

Es brauchte eine Volksregierung.

Es war Zeit für eine neue Revolution.

Nun ging das Jahr zuende.

Am 5. Dezember hatte er seine Abschiedspredigt gehalten.

„Ich taufe euch mit Wasser. Es kommt aber der, welcher stärker ist als ich, und ich bin nicht würdig, ihm den Riemen seiner Schuhe zu lösen. Er wird euch mit heiligem Geist und Feuer taufen. Er hat die Wurfschaufel in seiner Hand, um die Tenne zu fegen und den Weizen in seiner Scheune zu sammeln. Die Spreu aber wird er mit unauslöschlichem Feuer verbrennen.“

Das neue Jahr musste er mit einem Ritt beginnen.

Bern verlassen. Nach Lützelflüh reiten.

Am ersten Tag des Jahres.

Am Neujahrstag.

Am 1. Januar 1831.

“Begreife nun, dass ein wildes Leben in mir wogte, von dem niemand eine Ahnung hatte. Dieses Leben musste sich entweder aufzehren oder losbrechen auf irgendeine Weise.“

Epilog

Berühmt wurde Albert Bitzius fünf Jahre später. Als er 1836 statt unter seinem bürgerlichen Namen mit einem nom de plume sein erstes Buch veröffentlichte: Der Bauernspiegel oder Lebensgeschichte des Jeremias Gotthelf – Von ihm selbst beschrieben.

Nach seiner Ankunft in Lützelflüh am 1. Januar 1831 hatte Bitzius praktisch sämtliche Geschäfte des greisen Amtsinhabers übernommen.

Als Fasnacht ein Jahr später, im Januar 1832, starb, bewarb er sich als dessen Nachfolger um die Stelle.

Am 9. März wurde er zum Pfarrer von Lützelflüh gewählt.

Im November verlobte er sich mit Henriette Elisabeth Zeender, einer Enkelin von Pfarrer Fasnacht, die sich in den letzten Jahren im Wechsel mit ihrer Schwester um den gebrechlichen Grossvater gekümmert hatte.

Henriette Zeender war acht Jahre jünger als Bitzius und hatte beide Eltern, ihr Vater war ein Berner Pfarrer und Theologieprofessor, schon als Kleinkind im Alter von zwei Jahren verloren.

Am 8. Januar 1833 fand die Heirat statt.

Bitzius war fünfunddreissig Jahre alt, als er seine erste Stelle als Pfarrer erhielt, und für die zweiundzwanzig Jahre, die er noch lebte, blieb sie auch seine letzte.

Als sein erstes Buch erschien, war er neuenundreissig Jahre alt.

Der Hauptfigur gab er den Namen Jeremias Gotthelf und liess den Leser im Glauben, das Buch sei von diesem selbst geschrieben. Sei die von diesem geschriebene Lebensgeschichte.

Es sei die Lebensgeschichte eines Bauernsohns, der nach dem frühen Tod des Vaters Verdingkind wurde, dann Knecht, dann Söldner.

Das nicht als Roman bezeichnete und somit nicht zum vornherein zu Verharmlosung Anlass und Hand bietende Buch, dessen Obertitel Der Bauernspiegel lautete, wurde als skandalös empfunden und machte den ominösen Autor berühmt und berüchtigt.

Mit seinem zweiten Buch wiederholte der Pfarrer das Muster. Diesmal liess er die Öffentlichkeit glauben, die Schrift Leiden und Freuden eines Schulmeisters habe ein armer Lehrer namens Peter Käser verfasst.

Eine dem Text vorangestellte „Zueignung“ begann mit der Anrede „Hochverehrter Herr Direktor des bernerischen Schullehrerseminar!“ und schloss, nachdem auch noch der Name des damals real existierenden Adressaten genannt worden war, „Herr Seminardirektor Rikli“, mit der Grussformel „Dero gehorsamster Peter Käser, Schulmeister zu Gytiwyl im Kanton Bern“.

Für alle weiteren Werke, die Bitzius danach schrieb und die ihn weltberühmt machten, kehrt er dann jedoch wieder zu seinem ersten Werk zurück. Zum ersten Aufsehen, das er erregt hatte.

Er brauchte den von ihm für eine Romanfigur erfundenen Namen nun für sich selbst. Für sich als Schriftsteller.

Eine erfundene Figur, der er einen Namen gegeben hatte, gab diesen an ihn zurück.

Wie war er zu dem Namen gekommen?

In der Vorrede zum Bauernspiegel stand, der Verfasser sei „eben nur der ehrliche Jeremias Gotthelf, dem Gott geholfen, und der in wahren christlichen Treuen auch Andern helfen möchte“.

Als Jeremias Gotthelf wollte Albert Bitzius andern Menschen helfen. Mit Büchern.

Hat Gotthelf geholfen?

Hilft Gotthelf heute?

Als Schriftsteller zeigte Jeremias Gotthelf nicht nur die dunklen Seiten, die Schattseiten des Bauernlebens, wie man ihm nach seinen ersten Büchern vorwarf.

So wenig wie er nur die Sonnseiten der Bauernexistenz, das Leben der reichen Berner Bauern verherrlichte, wie Gottfried Keller später monierte.

Die in der Schweiz zu einer stehenden Redewendung gewordene Formulierung „wie zu Gotthelfs Zeiten“ täuscht darüber hinweg, dass Gotthelfs Zeit nicht nur die Zeit der Bauernwelt des Emmentals war, eine Welt, die sich Jahrhunderte lang praktisch nicht verändert hatte, sondern dass sie auch die Zeit war, in der die industrielle Revolution über die Agrargesellschaft hereinbrach.

Gotthelf hat in jedem seiner Werke implizit oder explizit auch über diese Entwicklung geschrieben.

Und er hat, wie eines seiner grossen Vorbilder, Heinrich Pestalozzi, bereits die Folgen und Gefahren der Industrialisierung, der Verstädterung und der Bevölkerungsexplosion vorausgesehen.

Er sprach vom „Baudämon“ und erfand für dessen Wüten das Bild: „Von den Strassen mag ich erst nichts hören; wenn der ganze Kanton eine Strasse ist, so werden die Leute die Erdäpfel einander auf den Gringen pflanzen sollen.“

Visionär fokussiert dieses Bild die kritischen Punkte der Industrialisierung und Virtualisierung der Welt, die uns heute zu schaffen machen: die Probleme des Wirtschaftswachstums, der Ressourcenverknappung und der Umweltzerstörung.

Aktuelle wissenschaftliche Berechnungen kommen zum Schluss, dass wir, wenn die ganze Welt so leben würde wie die einst, zu „Gotthelfs Zeiten“, arme Schweiz heute lebt, zweieinhalb Planeten wie die Erde brauchen würden.

Als Albert Bitzius geboren wurde, hatte die Schweiz 1,7 Millionen Einwohner. Zwei Drittel der aktiven Bevölkerung arbeiteten in der Landwirtschaft.

Heute hat die Schweiz 7 Millionen Einwohner. Von ihnen arbeiten in der Landwirtschaft nicht einmal mehr fünf Prozent.

Und bereits wird erwogen, die Landwirtschaft in diesem Land ganz abzuschaffen.

Die Schweiz ist auf dem besten Weg, eine einzige grosse Stadt zu werden. Eine Megastadt. Eine Metropole, wenn wir Glück haben, mit einigen grossen Naturparks: mit dem Naturpark Graubünden, dem Naturpark Tessin, dem Naturpark Berner Oberland, dem Naturpark Emmental, dem Jurassic Park Jura.

Als eigener Bundesdistrikt, als „City State“, wäre die Schweiz nach dem Modell von Washington D.C. somit bestens geeignet als Hauptstadt von Europa.

Dies würde zur Amerikanisierung der Welt passen, die zur Zeit im Gang ist und sich nicht nur auf Coca Cola, MacDonald und englische Namen bezieht.

Für die europäischen Länder, die in langen, blutigen Kämpfen soziale Demokratien mit einigermassen menschenwürdigen Lebensformen geschaffen haben, beinhaltet die Übernahme des American Way of Life auch die Wiedereinführung der extremen Unterschiede zwischen reich und arm, die Abschaffung von Sozialeinrichtungen, die Privatisierung des Staates und die Getthoisierung des Wohnens.

Visionär auch da Gotthelfs Schrift Die Armennot und was er zu Amerika schrieb. Zum „trügerischen“ Amerika. Zu Amerika als „Paradies des Spitzbuben“.

Amerika stand und steht in der Welt für Freiheit.

Der gegenwärtige Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika brauchte das Wort “Freiheit“ in der Inaugurationsrede zu seiner zweiten Amtszeit siebenundzwanzig Mal.

Jeremias Gotthelf war auch für die Freiheit.

Aber sowohl als Pfarrer wie als Schriftsteller wusste er, dass es keine absolute Freiheit gibt. Dass der Mensch eingebunden ist in ein grösseres Ganzes, und dass er deshalb ethische und moralische Regeln braucht.

“Freiheit und Frömmigkeit sind zwei Schwestern, die Wunder tun vereint“, schrieb er. „Aber flieht die Frömmigkeit, besteht die Freiheit nicht, die holde Maid verwandelt sich in ein zottig, grauenvolles Ungetüm.“

Wollen wir ein solches Ungetüm?

Wollen wir die Natur in eine nur noch vom Menschen gestaltete Kunstwelt verwandeln?

Ist das unser Lebenssinn?

Wollen wir in einer solchen Welt leben?

Und was sollen in einer solchen Welt unsere Lebensinhalte sein?

Geldverdienen und Spasshaben?

Fernsehen und Autofahren?

Discolärm und Festefeiern?

Alkohol und Drogen?

Jeremias Gotthelf sah das Heraufkommen von Atheismus und Materialismus. Als Folge der Aufklärung und der Französischen Revolution, die er als junger Mann freudig begrüsst hatte.

Er sah, dass das Geld zum neuen Gott wurde. Zum alles beherrschenden Götzen. Zum Goldenen Kalb, um das die Menschen immer schneller und zu immer lauterer Musik zu tanzen begannen.

Und er stand, diesem Zeitgeist trotzend, für andere Werte ein. Für seine Werte. Für die Werte, die ihm wichtig waren und für die er lebte. Für Glaube, Liebe, Hoffnung, Solidarität, Gemeinschaftssinn, Hilfsbereitschaft.

Er wurde zum Mahner und Warner und deshalb als Konservativer und Reaktionär bezeichnet und beschimpft.

Pestalozzi hatte vom „Geist der alten Einfachheit“ und vom neuen „verwöhnten Verbrauchergeist“ gesprochen.

Gotthelf sprach von „derber, gesunder Kost“ und von „ungesunder Überfütterung“.

Gotthelf wusste, dass man zum Leben auch Geld braucht. Und er kannte sich, wie sein Umgang mit Verlegern zeigt, in Gelddingen aus.

Aber er wusste auch, dass der Mensch nie vergessen wird, dass er zum Leben zuallererst Nahrung und Wasser braucht.

Und dass der Mensch früher oder später merken wird, dass man Geld nicht essen kann.

Gotthelf wusste, dass zum Geld der Geist gehören musste.

Er wusste, dass Geld und Geist zusammengehören.

Und er wusste, dass Reichtum verpflichtet. Zum Ausgleich. Zu sozialem Tun.

Er wusste, dass Geld ohne Geist kein gutes Geld ist. Dass gutes Geld nur Geld mit Geist ist.

Er wusste, dass der Geist dem Geld seinen Sinn geben muss.

Und er wusste, dass der Schlüssel zum Geist die Erziehung und die Bildung ist.

Das sichtbare Aussenleben und das unsichtbare Innenleben der Menschen, die Natur und die Geschichte, die vormenschliche Natur und die menschliche Natur, die Geschichte des Weltalls und die Geschichte der Menschheit, das Zusammenwirken von Materie und Geist im Geheimnis der Schöpfung, von Gotthelf auf die Formel „Geld und Geist“ gebracht, waren der Stoff, aus dem er seine Romane formte. Seine unmenschlichen Tragödien. Seine menschlichen Komödien.

Gotthelf hilft uns, wenn wir ihn lesen, auch heute noch.

Er hat den Menschen mit seinen Möglichkeiten beschrieben. Von seinen guten bis zu seinen bösen. Zur Abschreckung und zum Vorbild.

Um Gotthelf lesen zu können, müssen wir aber lesen können. Lesen gelernt haben.

Vor kurzem hingen in den Strassen der Schweiz Plakate, auf denen zu lesen war: WENN SIE DAS LESEN KÖNNEN, DANKEN SIE IHREN LEHRERINNEN UND LEHRERN.

(c) COPYRIGHT E. Y. MEYER 2006

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