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Deutsche Sprache in Ost und West

„Die politische Wende in Deutschland 1989 / 1990 hatte, das sehen wir zum Teil erst heute, massive Auswirkungen auf alle Lebensbereiche der Bürger. Es veränderte sich das politische System, das Sozialsystem, das Gefühl für die Geographie des Landes, es veränderte und verlagerte sich das Kulturleben, es veränderte sich die Sprache.

Auffällig war zunächst, dass die deutsche Wiedervereinigung keinen guten Einfluss auf den Status der deutschen Sprache zu haben schien. Man hatte den Eindruck, dass ein ruhiges Deutschland, das nicht zwei feindliche Blöcke repräsentierte, einfach nicht mehr so interessant sei. Daher ging plötzlich die Zahl der Deutschlernenden weltweit zurück.

Und die Deutschen, die Schweizer und die Österreicher, begannen auf einmal ganz liederlich mit ihrem Kulturgut Sprache umzugehen. Ihre auch bis dahin schon spürbare Vorliebe für Anglizismen begann orgienhafte Züge anzunehmen.

Von 1990 bis ungefähr ins Jahr 2001 hinein trennten sich deutsche und schweizerische Firmen und Werbetreibende bei jeder sich bietenden Gelegenheit von ihrer eigenen Sprache. Deutsche Firmen warben auch dann auf Englisch, wenn sie ihre Waren ausschließlich in Deutsch anboten.

Ende 1996 gab die Modeschöpferin Jil Sander aus Hamburg ein Interview für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, das schließlich die sprachliche Wende einleitete:

„Mein Leben ist eine giving-story. Ich habe verstanden, dass man contemporary sein muss, dass man future-Denken haben muss. Meine Idee war, die hand-tailored-geschichten mit neuen Technologien zu verbinden. Und für den Erfolg war mein coordinated concept entscheidend, die Idee, dass man viele Teile einer collection miteinander combinen kann. Aber die audience hat das alles von Anfang an supported. Der problembewusste Mensch von heute kann diese Sachen, diese refined Qualitäten mit spirit eben auch appreciaten. Allerdings geht unser voice auch auf bestimmte Zielgruppen. Wer Ladyisches will, searcht nicht bei Jil Sander. Man muss Sinn haben für das effortless, das magic meines Stils.“

Das war eine Lage Denglisch zu viel. Dieses Interview führt ganz ursächlich 1997 zur Gründung des Vereins Deutsche Sprache, der daraufhin explosionsartig wuchs. Ab dem Jahr 2001 war der Verein die sprachpolitische Institution, an der auch heute niemand mehr vorbeikommt.

Seither gibt es ein sehr geteiltes Bild der sprachlichen Situation: Jil Sander gibt nach wie vor fleißig Interviews, nun aber ohne einen einzigen Anglizismus. Seriöse Medien, seriöse Firmen üben auffällige Denglischzurückhaltung. Jedoch die Medien der Unterschicht favorisieren nach wie vor dieses Gemisch aus zwei Sprachen, ebenso wie zahlreiche Gewerbetreibende, die sich keine richtige Beratung leisten können. Wenn jemand heute in Deutschland eine Imbissbude aufmacht, kann man davon ausgehen, dass er sie „Chicken-Shop“ nennen wird.

Und dann hat sich noch ein ganz besonderes Phänomen entwickelt, von dem eigentlich anzunehmen war, dass es zwanzig Jahre nach der Wende nur noch ein historisches Thema sein würde. Es gibt ein Ost- und eine Westsprache. Aber das ist kein leichtes Thema.

Wer allerdings das Thema Deutsche Sprache in Ost und West zunächst mit den üblichen linguistischen Methoden zu erfassen versucht, kommt rasch zu sichtbaren Ergebnissen.

Ja, die Bürger der neuen Bundesländer haben einen eigenen Wortschatz. Neben dem bekannten Broiler für das Brathähnchen gibt es einige hundert weitere Wörter, die mehr oder weniger eindeutig der ehemaligen DDR zuzuordnen sind. Dazu gehören besonders Wörter und Abkürzungen für Einrichtungen und Gegenstände, die es nur in der DDR gab und die mit deren Untergang verschwanden. Die Wörter sind noch weitgehend bekannt. Einige Beispiele:

Aluchip war eine abwertende Bezeichnung für das billig aussehende Kleingeld der DDR-Mark.

BGL hieß die Betriebsgewerkschaftsleitung.

Clubgaststätten gab es vor allem in den Plattenbausiedlungen außerhalb der Innenstädte.

Delikatesshering hieß der Bismarkhering. Man tat sich mit dem Namen des deutschen Reichskanzlers selbst im Zusammenhang mit Fisch schwer.

Plaste und Elaste aus Zschopau – statt Plastik oder Kunststoff – amüsierte alle westdeutschen Transitreisenden, denn dafür wurde auf den Brücken der Transitstrecken geworben.

Feierabendheim hieß das Altersheim in der DDR, das im Westen bald Seniorenheim hieß.

Firma, auch bekannt als Firma Horch und Guck, hieß die Staatssicherheit, die im Osten zwar auch, im Westen aber nur Stasi hieß.

Gastmahl des Meeres hießen die Fischrestaurants. Man sieht sie gelegentlich noch.

Gehhilfe war ein nettes Scherzwort für den Trabant, der jedoch ansonsten in der DDR und in der BRD Trabi hieß und heißt.

Halle hieß die Kaufhalle, also der Supermarkt. Das Wort dürfte in den letzten 20 Jahren nur noch von älteren Menschen so verwendet worden sein.

Kader hießen die Führungskräfte in Politik und Wirtschaft. Bei nicht so jungen Bürgern aus den neuen Bundesländern ist das Wort noch sehr gängig. Es rutscht ihnen schnell heraus, wenn nun von Vorsitzenden, Gruppenleitern, Abteilungsleitern, Sprechern usw. die Rede ist.

Zudem gibt es Redewendungen, die zwar möglicherweise in ganz Deutschland verstanden, doch die eher in Dresden als in Köln verwendet werden.

Ehrendienst leisten hieß im Westen Wehrdienst leisten. Die östliche Nationale Volksarmee hatte ihre westlich Entsprechung in der Bundeswehr.

Das fetzt hieß und heißt im Westen etwa das ist geil oder voll krass.

Mächtig gewaltig war ein sehr großes Lob, das es im Westen nicht gab.

Mit sozialistischem Gruß unterschrieben ihre Briefe alle staatlichen Unternehmen, alle Behörden und natürlich alle SED Organisationen. Im Westen schrieb man erst Hochachtungsvoll, später Mit freundlichen Grüßen.

Plaziert werden hieß, in einem DDR Restaurant vom – nicht so selten rabiaten – Kellner einen Sitzplatz zugewiesen bekommen.

Darüber hinaus sprechen die Menschen in den alten und in den neuen Bundesländern Deutsch. Ich hoffe, Sie sind jetzt nicht enttäuscht. Vielleicht haben Sie auf Kuriositäten gewartet. Vielleicht hofften Sie auf weitere schöne Wörter wie Rennpappe oder Gehhilfe, mit denen die Ostdeutschen ihren Kleinwagen Trabant bezeichnen. Vielleicht haben Sie sich sogar auf das schöne Wort Jahresendzeitflügelfigur gefreut, das aus ideologischen Gründen in der DDR für den Weihnachtsengel verwendet wurde.

Tut mir leid. Die Jahresendzeitflügelfigur ist ein Gerücht, denn Engel hießen in der DDR Engel. Sicher, die Königsberger Klöpse hießen offiziel nur Fleischklöpse. Sicher werden dann und wann DDRler zu einem Trabbi Rennpappe oder Gehhilfe gesagt haben. Wie viele Scherzbezeichnungen kannten die BRDler für den Volkswagen? In meiner Jugend nannten linksstehende Menschen einen Mercedes gerne Bonzenschleuder.

Lexikalische und sogar grammatikalische Besonderheiten sind ein nettes Thema. Die Österreicher wirbeln den deutschen Wortschatz mit Prägungen wie Achterle für ein Glas Wein durcheinander, wenn etwas ganz nah ist, ist es a Spuckerl entfernt. Die Schweizer sind sogar stolz darauf, ein Fahrrad Velo zu nennen und statt eines Gehaltes ein Salär zu beziehen. Neuerdings besinnen sich auch die Luxemburger darauf, eine eigene Variante des Deutschen zu benutzen.

Ich als Ostwestfale nenne Schuhe gelegentlich Schochen. Selten schaffe ich es, meine Heimatstadt Paderborn korrekt auszusprechen, meist nenne ich sie Padabohan. Das ist, wie gesagt, nett zu wissen. Es gibt einige Bücher zu diesen Themen. Richtig aufschlussreich ist diese Herangehensweise nicht. Nicht für unser Thema.

Machen wir einen neuen Ansatz. Im Juli hatte ich einen freien Tag und nutzte den zu einem Kurzausflug in den Harz, Deutschlands nördlichstes Gebirge, das bis zum Ende der DDR zwischen Ost und West geteilt war. Es war sehr warm. Im schönen Ort Schierke, der bereits in Goethes Faust genannt wurde, am Fuße des Brocken, immerhin 1140 Meter hoch, nur wenige Kilometer von der ehemaligen Grenze entfernt, aber eindeutig in Sachsen-Anhalt, also in der ehemaligen DDR gelegen, tummeln sich die Touristen aus fast ganz Europa. Sie freuen sich auf den Brockenbesuch bzw. schwärmen nach dem Abstieg von der tollen Aussicht.

Ein riesengroßer Kiosk scheint alles bereitzuhalten, was die Touristenherzen und Mägen so begehren. Doch innen ist er auffallend leer, was auch daran liegt, dass der Eingang sehr schwer zu finden ist. Nachdem ich doch hinein gefunden hatte, fragte ich nach Eis und den zur Auswahl stehenden Sorten. Die Antwort lautete, und jetzt halten Sie sich fest:

Eine solche Auswahl hatte ich zuletzt im frühen Teil meiner eigenen Kindheit erlebt. Der deutsche Bundeskanzler hieß damals Adenauer, in der Schweiz durften die Frauen gelegentlich wählen. Schon als der westdeutsche Kanzler Erhard hieß, bestand eine akzeptable Eissortenauswahl aus

Und Ludwig Erhard wurde schon 1963 Bundeskanzler. Mit jedem neuen Kanzler danach vergrößerte sich das Eissortenangebot. Stracciatella steht für die Ära Brandt, Kiwi für Helmut Schmidt, ab Helmut Kohl gab es mehr Sorten als bekannte Früchte.

Und nun – 2009 – mitten in Deutschland: Vanille, Erdbeer, Schokolade.

Das Erlebnis im Harz ist noch nicht zu Ende. Die Verkäuferin muss mein maßloses Entsetzen bemerkt haben. Sie faucht mich an. Wörtlich, wirklich wörtlich im Juni 2009:

„Ja, Sie sind hier nicht im Westen.“

2009 ein unfassbarer Satz. 1988 wäre er in Ordnung gewesen. 2009 muss er erklärt werden. Nicht erklärt werden kann der Satz durch technische, logistische oder ökonomische Gegebenheiten. Es hätte eines kurzen Anrufs bei dem Eislieferanten bedurft, um die Eisauswahl innerhalb eines Tages auf 25 Sorten aufzustocken. Es gibt – technisch, logistisch, ökonomisch – kein Ost und West mehr. Die ökonomische Lahmgeherin DDR beendete 1990 ihre Existenz.

Was bringt also eine Kioskleitung an einem hochlukrativen Standort dazu, alles zu tun, um mögliche Kunden auf Distanz zu halten? Wieso greift eine Verkäuferin einen Kunden, also einen Ernährer, so brüsk an, nur weil dieser angesichts des ärmlichen Angebots etwas irritiert guckte? Wir sind bei unserem Thema. Mittendrin.

Denn dieses Erlebnis ist keine Einmaligkeit. Wer die neuen Bundesländer bereist, wird ähnliche Erlebnisse immer wieder haben. Nicht oft, denn selbstverständlich kann man heute auf dem Boden der ehemaligen DDR modernste und attraktivste Dienstleistung genießen. Aber immer wieder passiert es: in Ostberlin, auf Rügen, im Thüringer Wald, sogar in Dresden, sogar – wie in unserem Fall – wenige Kilometer von der alten Grenze entfernt. Die alte DDR scheint durch. Was ist es, was da durchscheint?

Die DDR wurde 1949 von der sowjetischen Besatzungsmacht ins Leben gerufen. Sie wurde auf einem Streifen deutschen Landes mit dem Namen Mitteldeutschland gegründet, der durch den Krieg extrem in Mitleidenschaft gezogen war. Die Besatzungsmacht hatte keinerlei Hemmungen, den erbarmungswürdigen Landstrich weiter auszuplündern. Noch jahrelang nach der Staatsgründung wurden in aller Öffentlichkeit Eisenbahnschienen abgebaut und in die UdSSR gebracht.

Die natürlichen Handelswege nach Ostdeutschland und nach Westdeutschland waren abgeschnitten oder stark beeinträchtigt. Zusätzlich wurden Millionen mittellose Vertriebene aus Schlesien, Ostpreußen und Pommern einfach in den Ruinenstädten abgesetzt, der neue Staat hatte sich irgendwie um diese armen Menschen zu kümmern.

Somit standen am Beginn des Ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschen Boden

Hunger, Wohnungsnot und bittere Armut. Die Versorgung mit fundamentalen Gütern des täglichen Bedarfs war schlecht, sehr schlecht. Eine ganz große Herausforderung der DDR war es also, die Menschen mit Essen und Kleidung zu versorgen, genügend Wohnraum zu schaffen und das Gesundheitswesen zu fördern. Das und nur das war wichtig.

Erschwert wurde die Erreichung dieses Zieles durch die Abwanderung vieler Fachkräfte in den bald schon wieder prosperierenden Westen. Zwischen 1949 und 1961 verließen jedes Jahr soviel Menschen die DDR, wie in einer richtigen Großstadt wohnen. Das Land war also arm, die Besatzer machten es noch ärmer, weitere arme Menschen wurden abgesetzt, Leistungsträger verließen massenhaft das Land.

Durch den Mauerbau 1961 und eine veränderte Politik der Sowjetunion wurde die Situation für die Menschen, die in der DDR geblieben waren, deutlich besser. Niemand musste mehr hungern oder frieren. Die materiellen Grundbedürfnisse der Menschen wurden mehr und mehr erfüllt. Erste Luxusbedürfnisse konnten befriedigt werden. Zum Beispiel konnte während des Sonntagsausfluges den Kindern ein Glas Limonade – oder – eben ein Eis spendiert werden. Diese durften nun wählen. Und zwar zwischen den Sorten Vanille, Erdbeer und Schokolade. Schön war das.

Schön war auch das Gefühl, nicht mehr so benachteiligt gegenüber dem Westen zu sein, der ja ohnehin nun unerreichbar war. Vielleicht gab es dort ein, zwei Eissorten mehr. Aber drei Sorten waren in Ordnung, drei Sorten reichten vollkommen aus. Es mussten nicht fünf Sorten sein. Man brauchte auch keine 100 Sorten Zigaretten, zehn waren vollkommen in Ordnung. In der Bundesrepublik fuhr man DKW, VW Käfer, Opel Kadett und Ford Taunus, die ganz reichen Leute durften einen Benz fahren. Im Osten fuhr man Trabant und Wartburg, die ganz wichtigen Leute fuhren einen russischen Wolga, aber das waren wirklich nur ganz wenige Auserwählte.

Im Alltag gab es alles, was man – und diese Formulierung ist ganz ungeheuer wichtig – brauchte. Es gab alles, was man brauchte.

Wenn man ehrlich ist, dann muss man zugeben, es stimmt. Mehr braucht der Mensch nicht.

Und so entstand ab etwa 1970 ein Staat, dessen Bürger alles hatten, was sie brauchten. Es gab genug zu essen, es gab genügend Heizmaterial, man konnte sich warm kleiden. Es gab – fast – genug Wohnraum. Man konnte Urlaub machen, nicht in der Schweiz, aber an der Ostsee oder im Thüringer Wald. Manchmal sogar in Ungarn oder in Bulgarien. Auch Russland, Kuba oder Vietnam waren nicht vollkommen unerreichbar.

Dazu sorgte der sich sozialistisch nennende Staat für einige Wohltaten, von denen die Landsleute im Westen nur träumen konnten. Arbeitslosigkeit gab es nicht. So gut wie niemand wurde aufgrund schwacher Arbeitsleistungen oder mangelnder Bildung aussortiert. Es gab gute Bildungsangebote für alle Menschen, wer sich weiterentwickeln wollte, hatte dazu meist alle Möglichkeiten. Kriminalität gab es natürlich, doch sie war vergleichsweise extrem niedrig. Die Grundnahrungsmittel waren unglaublich billig, ebenso Bücher, Zeitungen, Wohnungen, Strom, Straßenbahnfahrkarten, Theater usw. Die medizinische und schulische Versorgung war kostenlos. Teuer waren Dinge, die man nicht so richtig brauchte: Schokolade, Südfrüchte, Bohnenkaffee, Autos.

Aber insgesamt wurde der Mangel an Freiheit durch ein hohes Maß an Sorglosigkeit abgegolten, das ohne Zweifel seine Vorteile hatte. Das weit verbreitete Schlagwort hieß „Geborgenheit.“ Man hatte alles, was man brauchte. Und man konnte davon ausgehen, dass dieser Zustand bis an das Lebensende anhalten würde.

Nach 1980 gab es in Ost und West nur noch sehr wenige Menschen, die an eine Wiedervereinigung glaubten. Wahrscheinlich gab es gar keine Menschen, die den gewaltigen Zusammenbruch auch nur ansatzweise für denkbar gehalten hatten.

Es gab um diese Zeit einen netten Witz in der DDR, der die Situation markant umschrieb:

„Frage: Die wichtigsten Staaten der Welt fangen alle mit einem U an. Wie lauten sie? Antwort: UdSSR, USA und Unsere DDR.“

Dann 1989 / 1990 der ganz große Schock. Das Unfassbare passierte. Ein Staat, dessen wahrscheinliche Lebenserwartung der normale Mensch in Richtung Ewigkeit definiert hätte, verschwand innerhalb weniger Monate. Einfach so. Niemand griff ihn mit Waffen an, erstaunlicherweise verteidigte ihn auch niemand vehement.

Der Umbruch war für die Menschen in der DDR ungeheuerlich. Nichts stimmte mehr, nichts war verlässlich, nichts war mehr bekannt.

Natürlich konnte man sich nun zahlreiche bisher unerfüllbare Wünsche erfüllen. Man konnte in die Schweiz reisen und sich Käse aus Appenzell kaufen. Man konnte die Neue Zürcher Zeitung lesen. Man konnte lauthals die Regierung verfluchen, ohne dass es einen anderen Menschen interessierte. Man konnte sich nun ganz schnell ein schönes Auto kaufen. Die vielen Freudentränen wurden ja nicht grundlos vergossen.

Aber das ganze hatte einen Preis. Die Sorglosigkeit war dahin. Komplett. Plötzlich gab es Arbeitslosigkeit. Und Kriminalität. Man wurde betrogen, überfallen, verprügelt. Die Preise für Miete, Brot, Straßenbahnfahrkarten, Bücher, Strom und Bildung explodierten. Billiger wurde Dinge, die man nicht so dringend brauchte: Schweizer Schokolade, Bananen, Kaffee und Autos.

Man konnte in der DDR langsam oder sogar schlecht arbeiten, entlassen wurde man dafür erst im wiedervereinigten Deutschland. Kellner war in der DDR ein anerkannter Lehrberuf, in dem man fest angestellt war und nicht so freundlich zu seinen Gästen sein musste. Nun wurde es ein Job, schlecht bezahlt und selten mit richtigem Arbeitsvertrag, aber man musste zu den Gästen auch dann nett sein, wenn diese selbst nicht so waren.

Man wusste, dass die eigenen Kinder später eine Lehrstelle und eine Arbeit im Ort finden werden. Jetzt aber lungern diese auf der Straße herum oder mussten sich in der Schweiz als Gastarbeiter verdingen. Natürlich war die DDR ein Schnüffelstaat, aber nie hatte man von alten Menschen gehört, die erst Wochen nach ihrem Tod in der Wohnung aufgefunden worden sind. Nein, die DDR war kein Idyll, aber man hatte alles, was man brauchte, und nun hat man viele Dinge, auf die man sehr gut verzichten konnte.

Und jetzt kommen wir wieder zur Sprache:

Vanille, Erdbeer, Schokolade

Der Wortschatz kann in vielen Fällen gleich sein, doch werden Wörter anders konnontiert. Das merkt man nicht sofort. Man unterhält sich, man verwendet dieselben Wörter, aber irgendwie versteht man sich nicht.

Vanille, Erdbeer, Schokolade. Für einen noch nicht uralten Westdeutschen drängt sich hier die Konnotation „kärglich“ oder „altbacken“ auf. Für manchen Ostdeutschen ist jedoch noch die Konnotation „genug“ oder „angemessen“ vorhanden. Mehr noch. Vanille, Erdbeer, Schokolade ist eine DDR-Auswahl. Die DDR steht für Sorglosigkeit und Sicherheit.

Noch krasser wird der Unterschied an einem zentralen Wort der kapitalistischen Welt: „Kunde“. Der Mensch, der im Osten und im Westen einen Kiosk betritt, um etwas zu kaufen, hieß und heißt in Ost und West „Kunde“. Der Besitzer oder der kluge Mitarbeiter im Westen sieht ihn möglichen als Teil seines persönlichen Einkommens. Er wird sich bemühen, es dem Besucher so angenehm wie möglich zu machen, damit er möglichst viel Geld ausgibt. Deshalb ist ja auch der Eingang gut sichtbar gemacht durch ein riesiges Schild: „Herzlich willkommen.“ Wenn der Kunde geht, sagt der Besitzer „Danke!“.

Der Kioskleiter mit starkem DDR-Hintergrund sieht einen Menschen kommen, der eine Ware oder Dienstleistung entgegennehmen möchte. Der Kunde möchte etwas haben, der Mitarbeiter soll es ihm geben. Der Kunde ist Aufwand. Zudem handelt es sich um einen Fremden. Man weiß nicht, ob er etwas klauen oder kaputtmachen will. Kontrolle ist wichtig, daher der schmale Eingang. Wenn der Kunde seine Ware erhalten hat, erwartet der Mitarbeiter ein „Danke“.

Ein Beispiel aus meiner Arbeit als Betriebslinguist. Wenn ich in einem Unternehmen tätig bin, muss ich gelegentlich zwischen guten und schlechten Mitarbeitern unterscheiden. Einen schlechten Mitarbeiter, der sich vor der Arbeit drückt und die Kunden anpflaumt, kann ich im Westen politisch korrekt Minderleister nennen. Im persönlichen Gespräch könnte schon mal das Wort Drückeberger fallen. Ist der Fall deutlich genug, darf dann ruhig der Betriebsrat anwesend sein. In Thüringen, Sachsen oder Vorpommern weiß ich nie, wie ich mich ausdrücken soll. Minderleister oder gar Drückeberger würden mir ganz, ganz übel angekreidet. Ich wäre ein Abgesandter des westlichen Raubtierkapitalismus´ und könnte ganz schnell meine Sachen packen. Man würde mir höchstwahrscheinlich erklären, dass der Kollege aus ganz bestimmten persönlichen Gründen so mangelhaft arbeitet. Keinesfalls dürfe er für seine Leistung kritisiert oder diskriminiert werden. Also muss ich immer um den heißen Brei herumreden.

Vor drei Jahren musste ich einmal den Pressesprecher eines großen ostdeutschen Unternehmens betreuen. Es handelte sich um einen wirklich sehr netten Menschen, der leider weder schreiben noch sprechen konnte. In Interviews machte er eine so unglückliche Figur, dass man nur hoffen konnte, die Firma müsse sich niemals mit einer kritischen Öffentlichkeit auseinandersetzen. Die Republik lachte sich kaputt. Ich versuchte, wie ich meinte, in seinem Sinn, etwas die Taktzahl zu erhöhen und ihm in kurzer Zeit möglichst viel kommunikatives Wissen zu vermitteln. Einen Kuschelkurs hielt ich angesichts seiner Aufgaben für kontraproduktiv.

Das Ergebnis dieser Entscheidung war verheerend. Der Pressesprecher beschwerte sich über mich, er fühlte sich unter Druck gesetzt. Das Unternehmen reagierte empört. Wie könnte ich nur den sympathischen Mann so quälen? Ich musste bei meinem Auftraggeber antanzen und mich rechtfertigen, wobei ich auf die besonderen Aufgaben des Pressesprechers verwies. Es nutzte nichts. Ich wurde gefeuert – nicht er.

Logisch war diese Handlung vor dem Hintergrund eines anderen Wortes, das in Ost und West vollkommen anders gedeutet wird: „Solidarität“. Im Westen ist Solidarität wesentlich eine Einstellung oder Denkweise, die sich in Unterschriften unter eine Petition oder, wenn es hoch kommt, in einer Demo bemerkbar macht. Man hätte dem Pressesprecher auf die Schulter geklopft und hätte ihm versichert, dass es Schlimmeres als so eine Fortbildung gäbe. Im Osten ist Solidarität eine ganz direkte Handlungsaufforderung. Da wird jemand – von uns – angegriffen, da muss jemand verteidigt werden.

DDR

Wir sind hier bei der Quelle zahlreicher Missverständnisse zwischen Ost und West. Wir finden hier auch eine Antwort auf zahlreiche Sondererscheinungen in den neuen Bundesländern: Wahlergebnisse, Erhalt typischer DDR Erscheinungen wie der Jugendweihe, konstant unfreundliche Dienstleister und schließlich drei Eissorten in Schierke: Vanille, Erdbeer, Schokolade.

Wie lange werden diese Unterschiede andauern?

Unter Napoleon gehörte ein Teil des deutschen Rheinlandes einige Jahre zu Frankreich. Noch heute haben die Kölner ein anderes, ein französisches Verhältnis zu Staat und Obrigkeit – im Gegensatz zu den nahe gelegenen Düsseldorfern.

Seit dreißig Jahren gibt es im Ruhrgebiet keine nennenswerte Schwerindustrie und nur noch wenig Kohleabbau. Die rauhe Umgangssprache der Kumpel und Stahlschmelzer ist bis heute erhalten.

In meinem Heimatbundesland Nordrheinwestfalen gibt es einen kleinen Flecken Land mit dem Namen Lippe bzw. Lippe-Detmold – nur wenig größer als Appenzell. Während der Reformation, die jetzt ja auch schon einige Jahrhunderte zurückliegt, orientierte man sich dort weniger an Luther als an Calvin. Man feiert noch heute dort einen anderen Gottesdienst, ist stolz auf seine separate Geschichte, wählt – und – spricht anders. Lippisch eben.

Daher werden sich die Ostdeutschen vielleicht bald von Broiler und Betriebsgewerkschaftsleitung trennen, die hier genannten Unterschiede werden in den nächsten Jahrzehnten noch Stoff für viele dicke Doktorarbeiten liefern.“

Von Reiner Pogarell

Vortrag gehalten an der Deutschen Schule Genf am 2. Oktober 2009 anlässlich des Deutschlehrertages, der dieses Jahr unter dem Motto „20 Jahre friedliche Revolution und Mauerfall“ stand.

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