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Bei uns kriegen Sie geholfen

Ein Düsseldorfer Sprachwissenschafter blickt in die Zukunft der deutschen Sprache. Sein Befund: Auf lange Sicht wird es zu gewaltigen Veränderungen kommen.

Jede lebende Sprache entwickelt sich weiter, nur tote Sprachen bleiben für immer so, wie sie sind. Aber was wird einmal aus der deutschen Sprache? Der Sprachforscher Rudi Keller von der Universität Düsseldorf hat darüber nachgedacht, seine Überlegungen sind in der September ausgabe von „Readers Digest“ zu finden. Die Prognosen sind nichts für schwache Nerven. Unsere Vorstellungskraft, was die Zukunft der deutschen Sprache anlangt, ist ja noch kaum strapaziert worden. Zwar nehmen wir die gewaltigen Umwälzungen vom Althochdeutschen über das Mittelhochdeutsche bis zur Sprache der Gegenwart zur Kenntnis, aber wer wagt es, diese Entwicklungen in die Zukunft fortzuschreiben?

Wörter schleifen sich im langen Gebrauch ab wie Kiesel in einem Flussbett, schreibt „Readers Digest“. Das lateinische aqua (Wasser) wurde im Französischen zu eau , [das] lateinische habent (sie haben) wurde zu spanisch han . Im Deutschen schreiben wir haben und sagen meist ham . „Deshalb“, meint der Sprachforscher Keller, „könnte ham in ein paar hundert Jahren auch die Schriftform sein.“ Im Englischen, das die gleichen Wurzeln wie das Deutsche hat, sind ja bereits fast alle Endsilben dem Abnützungsprozess zum Opfer gefallen.

Während ich diesen Text schreibe, höre ich in einer ARD-Kochsendung folgenden Satz: „Für die, die gerne backen – bei uns kriegen Sie geholfen!“ Klar, dieser Satz klingt für unsere Ohren falsch. Aber wie lange noch? Die Konstruktion mit dem Namen Dativ- oder Rezipientenpassiv ist laut Keller nicht so abwegig. Vielleicht haben Sie auch schon einmal „etwas geschenkt bekommen“ oder „einen Zahn gezogen gekriegt“? Keller meint, in 50 Jahren könnte das Dativpassiv in jeder Schulgrammatik stehen.

Nehmen wir an, Sie rufen einen Freund an, und er sagt zu Ihnen: „Ich bin gerade am Kochen!“ Ist diese Formulierung akzeptabel? Na ja.. . Sie wird rheinische Verlaufsform genannt und ist im gesamten westdeutschen Sprachraum bis in die Schweiz anzutreffen – manchmal sogar mit eingeschobenem Objekt: „Ich kann nicht ans Telefon kommen, ich bin gerade den Rasenmäher am Reparieren.“

Und dann gibt es in Deutschland seit neuestem einen unbestimmten Demonstrativartikel: „Da vorne fährt son Bus mit Wasserstoffantrieb“. „Son“ verhält sich zu „ein“ wie der bestimmte Demonstrativartikel „dieser“ zu „der“. Keller meint, es wäre ein neues Wort, nicht nur eine Zusammenziehung von „so ein“, denn wir könnten es auch verneinen und in die Mehrzahl setzen: „kein son Bus“ und „zwei son Bus“. Für
Rudi Keller ist das kein Verfall, sondern eine Komplettierung des Systems. Es werde aber noch Jahrzehnte dauern, bis diese Formen 
in die Standardsprache einziehen.

Beim Lesen dieser Zukunftsperspektiven stellt es mir die Nackenhaare auf. Dabei weiß ich: Jede Veränderung gilt zunächst als Regelbruch, erzeugt Sprachekel, bis dann eines Tages der Regelbruch zu einer neuen Regel wird. Die von Keller genannten Beispiele erschrecken mich wahrscheinlich auch deshalb, weil sie aus Mundarten stammen, die uns fremd sind.

André Meinunger, ein in Berlin lehrender Sprachwissenschafter, wirft hingegen die Frage auf, warum der im Süden vorkommende besitzanzeigende Dativ „dem Vater sein Auto“ in der Standardsprache als übelstes Deutsch gilt. Dieser habe sogar eine Reihe von Vorteilen gegenüber den Genitiven „Vaters Auto“ oder „das Auto des Vaters“. Außerdem ist diese Form im Deutschen nichts Neues. „Übermorgen hol ich der Königin ihr Kind“, sagt schon das Rumpelstilzchen. Mit diesem Genitiversatz könnte ich mich eher anfreunden.

Robert Sedlaczek in „Wiener Zeitung“ vom 14.Okt.2009

(Autor des Buches „Das österreichische Deutsch“)

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