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Das Bergell als „Spiegel Europas“ oder das „Tal“ Europa

Im Denklabor „Villa Garbald“ der ETH und der Universität Zürich fand in Castasegna (Bergell) vom 2. bis 5. Juni eine internationale Tagung zur Frage der Beziehung von Sprachen, Bildern und Denken zwischen lokal und global statt. Sie wurde organisiert durch Mario Frasa, vom Centro di dialettologia e di etnografia del Canton Ticino sowie Marco Baschera, vom Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Zürich, in Zusammenarbeit mit dem Collegium Helveticum sowie der Fondazione Garbald. Die Tagung wurde auf Italienisch, Französisch und Deutsch abgehalten. Jeder Teilnehmer drückte sich in seiner Sprache aus und wurde so von allen verstanden. Dadurch entstand nicht nur eine lebendige Polyphonie der Mehrsprachigkeit sondern auch eine fruchtbare Vielfalt der Denkweisen, die nicht im engen Korsett einer gemeinsamen „lingua franca“ reduziert werden musste.

Der Titel der Tagung lautete „Lingue al limite“. Er bezieht sich einerseits auf die Lage der Villa Garbald, die nur wenige Meter von der italienischen Grenze entfernt ist und somit auf die Situation des Bergells als geographisches Randgebiet des Kantons Graubünden und der Schweiz. Andererseits verweist er auf die Tatsache, dass heute viele Sprachen und Dialekte vom Aussterben bedroht sind und sich in Extremsituationen befinden. Drittens wirft dieser Titel die Frage auf nach der Beziehung aller noch existierenden Sprachen zu der einen Universalsprache Englisch, die sie allesamt zu zweit- und drittrangigen Sprachen zu reduzieren droht.

Ausgangspunkt war das Bergell. Dort hat sich über die Jahrhunderte eine komplexe Form von gelebter Mehrsprachigkeit ausgebildet, die in letzter Zeit in Krise geraten ist. Das Bergell kann daher als Laboratorium dazu dienen, Probleme der sprachlich-kulturellen Identität, wie sie sich in ganz Europa zeigen, zu untersuchen. Gian Andrea Walther als Vertreter des Tales und der Soziolinguist Sandro Bianconi erläuterten zu Beginn eindrücklich, wie dieser mehrsprachige Mikrokosmos nach einer Identitätsfindung über Jahrhunderte in eine Phase des schnellen Wertewandels und der Orientierungslosigkeit geraten ist. Mit dem Rückgang des Dialekts ist auch eines der wichtigen, identitätsstiftenden Elemente des Tals bedroht.

Nicoletta Maraschio, Präsidentin der Accademia della Crusca aus Florenz, erläuterte hierauf die Situation Italiens, wo mit den starken Immigrationsströmen der letzten Jahre und Jahrzehnte weit über Hundert neue Sprachen ins Land gekommen sind. Sie stellte eine jährlich in Florenz stattfindende Tagung – „La Piazza delle lingue“ – vor, an welcher die Sprachakademie jeweils versucht, mit dieser Vielfalt von Sprachen auf eine fruchtbare und positive Weise umzugehen. Darauf folgte ein Vortrag von Frau Isolde Burr, Professorin für Rechtslinguistik an der Universität Köln, zur offiziellen Mehrsprachigkeit der europäischen Union in Rechtsfragen. Im Zentrum der angestrebten Supranationalität steht die Übersetzung. Dabei wird versucht, linguistischen und juristischen Belangen in gleicher Weise Rechnung zu tragen. Leitspruch dieser hochkomplexen Übersetzertätigkeit ist der entscheidende Satz, gemäss welchem Sprache nicht nur das Recht ausdrückt, sondern Recht ist.

In einem nächsten Block folgte zunächst ein Vortrag von Michele Prandi, Linguist an der Universität Genua, zur Frage der identitätsstiftenden Funktion der Dialekte, die sich z.B. in den alpinen Dialekten in der konkreten sprachlichen Raumorientierung ausdrückt. Dadurch belegte Prandi die enge Verbindung von Dialekt und geographisch-topographischer Umgebung, die durch den dominant kommunikativen Aspekt einer National- oder Universalsprache aufgebrochen wird. Als nächster sprach Jürgen Trabant, Linguist und Sprachphilosoph von der Jacobs University in Bremen zum Thema “Die europäische Sprachenfrage”. Trabant skizzierte die Entstehung der Nationalsprachen in der Renaissance, in welcher das Latein als “lingua franca” von einer Gemeinschaft von Sprachen abgelöst wurde. Er warnte eindringlich vor den Folgen der ungehemmten Ausbreitung des Englischen, welche die Gefahr der weltweiten Ausbildung einer medialen Diglossie in sich birgt, die aus der jeweiligen Volkssprache plus Englisch besteht. Sie führe zu einem Prestigeverlust der nationalen Standardsprachen und stelle damit Europa in seinen Grundfesten in Frage.

Der nächste Block war eher literarisch-philosophischen Fragen gewidmet. Marco Baschera, Komparatist an der Universität Zürich, ging anhand eines Zitats von Wilhelm Humboldt auf die zentrale Stellung der Sprache und der Sprachen in der Definition und im Selbstverständnis des Menschen ein. Sprache ist ans Sprechen gebunden. Dadurch trägt sie etwas Singuläres an sich, das in jedem Sprechakt zum Ausdruck kommt und sich einer Reduktion auf universelle Gehalte vorerst entzieht. Diese Gehalte können sich nur in Sprache und Sprachen ausdrücken. Als nächster äusserte sich Iso Camartin, der bekannte Bündner Schriftsteller und Publizist, zum Thema „Universelle Mythen in bündnerromanischen Verwandlungen”. Er plädierte für einen Paradigmenwechsel in der Beziehung von Lokal zu Global. Es kann nicht darum gehen, das Lokale nur zu schützen. Denn dadurch zeigt es gerade seinen musealen Charakter. Vielmehr sollte im Lokalen die besondere und nicht ersetzbare Auseinandersetzung mit globalen, universellen Themen und Mythen hervorgehoben werden.

Am nächsten Morgen kam zuerst Ruedi Baur, Professor für Design an der Hochschule der Künste in Zürich, mit seinem Vortrag “La traduction visuelle” an die Reihe. Er verwies auf die Tatsache, dass die Bilder in der Globalisierung einem ebenso grossen Uniformisierungsdruck ausgesetzt sind, wie die Sprachen. Er plädierte vor allem für eine positive, lebendige Darstellung der gelebten Mehrsprachigkeit und deren Vorteile gegenüber einer weltweit drohenden Zunahme der Einfalt auf allen Ebenen. Der kleinste gemeinsame Nenner darf keinesfalls Modell sein für die interkulturelle Vermittlung zwischen den Völkern. Ebenso rief er zu einer vermehrten Reflexion auf die grundlegende Beziehung von Sprachen und Bilder auf. Jacques Le Ny stellte in der Folge die Arbeit des “Atelier européen de la traduction” in Orléans vor, das er seit zehn Jahren leitet. Er erinnerte an die zentrale Stellung der Übersetzung im Leben der Sprachen, der Gemeinschaften und damit auch der Menschen in ihrem Verhältnis von Eigenem zum Fremden. Ebenso ist die Übersetzung von grosser Bedeutung für die Beziehung von Dialekt und Hochsprache und damit auch für jene von Mündlichkeit und Schriftlichkeit.

Der bekannte französisch-schweizerische Schriftsteller und Künstler Valère Novarina stellte eine Arbeit, die “Loterie de Pierrot”, vor, die er letztes Jahr veröffentlicht hatte. Darin werden gegen 300 Übernamen aus der Gegend von Thonon-les-Bains auf originelle Weise literarisch dargestellt. Ausgangspunkt von Novarina ist seine Vermutung, dass jeder, auf seine ganz besondere Art, seine eigene Sprache – “une langue à un” – spricht. Der Übername vermag an diese Singularität zu erinnern. Abschliessend ging Pietro de Marchi, Schriftsteller und Literaturwissenschafter an der Universität Zürich, auf Leben und Werk Luigi Meneghellos zwischen den Sprachen und seinem italienischen Dialekt ein. In der gelebten und literarisch reflektierten Mehrsprachigkeit bildete sich in seinen Texten die Vorstellung einer gemeinsamen Existenz verschiedener Sprachen aus, die sich gegenseitig befruchten und keinesfalls ausschliessen.

Am ersten Abend fand zudem unter der Leitung von Mario Frasa eine Diskussion am runden Tisch zu Fragen der Sprachenpolitik im Kanton Graubünden, in der Schweiz sowie Europas mit politischen Vertreterinnen und Vertretern aus diesen verschiedenen Regionen statt. Aus Chur waren die Leiterin des Amtes für Kultur, Frau Barbara Gabrielli, sowie Herr Ivo Berther, Verantwortlicher für Sprachenförderung im Kanton Graubünden, und aus Bern Frau Stéphanie Andrey, Verantwortliche für Sprachenpolitik im Bundesamt für Kultur, anwesend. Die ganze Tagung klang am zweiten Abend aus mit einer Lesung von Valère Novarina, Pietro de Marchi sowie einer Erinnerung an Leben und Werk des vor zehn Jahren verstorbenen rätoromanischen Schriftstellers Flurin Spescha durch Mario Frasa.

Es ist eine Publikation der Akten in den “Quaderni grigionitaliani” vorgesehen.

Prof. Dr. Marco Baschera

Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft

Universität Zürich

Plattenstrasse 43

8032 Zürich

Bericht an die Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften von der Tagung „Lingue al limite“ vom 2.-5. Juni 2010 im Denklabor „Villa Garbald“ in Castasegna (Bergell)

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