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Kinder, ich habe versagt

Mein Baby kann kein Chinesisch, weiß nichts von Rhetorik und erst recht nichts
von Ökonomie. Wie soll es je Karriere machen?

So bitter es klingt: Aber für unsere drei Kinder ist es schon zu spät. Wenn
nicht noch ein Wunder geschieht, werden sie es später nicht zum Top-Manager
bringen. Obwohl sie es hätten schaffen können, wenn wir sie nicht permanent
benachteiligen würden. Und das wissentlich, denn ich gestehe: Wir verweigern
uns der Frühförderung, die Industrie und Bildungs-Pioniere den Kindern
angedeihen lassen.

Den Startschuss haben wir schon vor der Geburt verpasst. Während andere
Schwangere ihre Ungeborenen in Wartelisten der Baby-Englischkurse eintrugen,
habe ich nur auf Alkohol und Zigaretten verzichtet und geglaubt, das reicht.

Weit gefehlt. Musik hätten wir hören sollen, nachts englische Schlaflieder
summen müssen oder wenigstens eine Baby-Classics-CD an den Bauch pressen. Ob
sich das Green-Day-Konzert, besucht im fünften Monat, dagegen positiv auf die
Leistungskurve des Fötus auswirkt, ist fraglich. Es war sehr laut damals.

Der Bildungsrückstand unserer Kinder ist nicht mehr aufzuholen, glaubt man den
Baby-Förderern. 125 Milliarden unersättlicher Gehirnzellen warten in den
ersten drei Lebensjahren auf Kost, verabreicht in leicht verdaulichen Dosen in
den Geschmacksrichtungen van Gogh, Shakespeare, Mikroskopie oder Energetik.

Unsere Kleinen wissen von Wärmeentwicklung nur, dass die Hitze noch anhält,
wenn die Herdplatte längst nicht mehr leuchtet. Eine schmerzhafte Erfah rung.
Sie können keinen Schaltkreis aufma len (obwohl sie gerne „Licht an, Licht aus“
am Schalter spielen) und wissen nichts über die Dichte der Kühlpacks, mit denen
sie ihre Beulen kühlen. Dabei könnten sie das alles längst wissen! Und noch
viel mehr.

Die Frühförder-Industrie macht es Eltern heute leicht: „Baby“s Best Start“, so
wirbt das Helen-Doron-Sprachzentrum für seine Englischkurse. Genau das wollen
wir ihnen doch bieten, einen optimalen Start im Zeitalter der Globalisierung.
Warum haben wir trotzdem keines unserer Kinder zu den Baby-Seminaren
geschleppt? Wo Mütter singen, tanzen und den Didaktoren lauschen. Wo die Babys
wohlig glucksen, schreien oder einfach schlafen. 45 Minuten in der Woche – das
ist wirklich nicht zu viel verlangt an Elterneinsatz. 23 000 Mütter haben mit
ihren Windelpaketen bereits einen Kurs an einem der vielen Standorte
absolviert, die das Sprachzen trum zwischen Elmshorn und München aufgezogen
hat. Es kostet schließlich nur 40 Euro im Monat.

Nun quält uns das Gewissen. Die Konkurrenten unserer Kinder haben mit zwölf
Wochen bereits 550 englische Wörter aufgesogen. Deren Synapsen haben sich
optimal vernetzt. Amsel, Specht, Pelikan, das gesamte Kochgeschirr auf
Englisch ist dort nun unter der Großhirnrinde gespeichert, abrufbar später in
heiklen Jobsituationen, denen unsere Sprösslinge hilf- und sprachlos
ausgeliefert sind. Vertan ist diese Chance. Das vielzitierte „Zeitfenster für
Sprachen“ schließt sich früh.

Mit sieben Jahren lässt die Aufnahmefähigkeit nach, mit elf ist es vorbei mit
dem mühelosen Lernen einer Fremdsprache. Dann müssen sie Vokabeln pauken wie
wir früher. Nur wusste man damals nicht so viel von der Hirnforschung. Unsere
Eltern hatten auch nicht gegen den Bildungsnotstand zu kämpfen wie wir heute.
Spätestens seit dem Pisa-Test gibt es keine Entschuldigung mehr für Eltern,
die sich den privaten Förderangeboten verweigern. Jeder Idiot weiß heute, dass
das menschliche Gehirn gerade in den Jahren, bevor wir die Kinder in die Schule
schicken, Höchstleistungen vollbringt.

Das Gehirn eines Dreijährigen ist doppelt so aktiv wie das eines Erwachsenen.
Und was tun wir? Wir lassen unsere Kinder im Garten schaukeln, im Dreck
buddeln, derweil der Nachbarssohn seine Konzentrationsfähigkeit mit Flashcards
trainiert. Erwiesenermaßen kann man die Aufmerksamkeit, die bei Kleinkindern
leider schnell nachlässt, durch wechselnde Impulse auf einer interaktiven
Leinwand steigern. Genau diese Erkenntnisse machen sich verschiedene Anbieter
zunutze; „Fastrackids“ beispielsweise. Die amerikanische Bildungskette, die
sich in Deutschland ausbreitet, bietet Kurse für Kinder zwischen drei und sechs
Jahren an. „Ein Leben lang für Vorsprung sorgen“ lautet das Motto. Der
Stundenplan ist durchgetaktet wie der Tag eines Managers – genau darauf
bereitet Fastrackids schließlich vor. Das komplette Angebot kostet knapp 3000
Euro, dafür erwerben die Kinder in zwei Jahren „betriebliche
Führungsfähigkeiten“. Der Fächerkanon umfasst Kommunikation, Astronomie,
Ökonomie, Englisch, Literatur, Rhetorik.

Und unsere Kinder? Die sprechen kein Wort Mandarin, nicht einmal Russisch. Sie
wissen nicht, was ein Symbol ist, ein Zeitstrahl oder Hieroglyphen. Sind wir
tatsächlich so schlechte Eltern? Warum haben wir unseren Babys den Pekip-Kurs
vorenthalten? Das Baby-Schwimmen, die Massageübungen, mit denen die Kleinen
entspannen (manche schreien wie am Spieß, aber irgendwann lieben sie es alle,
heißt es). Warum sind wir nicht wenigstens später eingestiegen in die
Synapsenpflege? Im Alter von zwei, drei Jahren lässt sich einiges wettmachen.
Warum haben wir uns auch noch gegen eine bilinguale Privatschule entschieden?
Wegen der 400 Euro im Monat etwa?

Bis zu dem Tag, an dem sie uns mit ihren Vorwürfen konfrontieren, spätestens
dann, wenn die „Kinder auf der Überholspur“ an ihnen vorbeiziehen, müssen wir
eine schlüssige Antwort gefunden haben. „Weißt du, wie teuer eine Privatschule
ist?“, wird als Argument nicht genügen. Wir könnten von Chancengleichheit
reden, davon, dass es arme Kinder gibt, deren Eltern sich diese
Privatangebote gar nicht leisten können. Wir können Expertenstimmen sammeln,
die von „Scharlatanerie“ berichten oder von „Reizüberflutung“. Wie der
Hirnforscher Henning Scheich könnten wir anführen, dass Kinder „nebenbei
lernen“, eben beim Spielen im Matsch, beim Singen und Reimen, dass Gehirne
keine Schwämme sind, die alles aufsaugen, sondern sich raussuchen, was ihnen
rele vant erscheint (und Chinesisch erscheint Dreijährigen hierzulande nicht
relevant).

Wir könnten den Medienpädagogen Edwin Hübner zitieren, der
Kindergärten rät: „Schafft lieber Musikinstrumente an als PCs.“ Wir könnten
schimpfen auf Eltern, die sich mit Bildung freikaufen, die zu allem bereit
sind aus Furcht vor dem sozialen Abstieg, aus Angst, ihre Kinder könnten
scheitern. Auf Mütter und Väter, die fixiert sind auf die Leistung ihrer Kinder
und damit deren Neugier und Mut zerstören (das behauptet der Kinderpsychologe
Wolfgang Bergmann). Wir könnten ihnen mit Albert Einstein kommen, der
angeblich ein dickliches, träges Kind war, das gerne still in der Ecke saß und
nichts tat. Das Problem ist nur: Wir fühlen uns trotzdem schlecht. Es nagt an
uns: Was, wenn unsere Kinder später keinen Dax-Konzern leiten? Wenn wir ihre
Mittelmäßigkeit selbst verschuldet haben? Wie sollen wir ihnen das nur
erklären?

Kirchen und Ketten

Mittlerweile gibt es eine Million Privatschüler an 3000 Privatschulen, Anfang
der 90er Jahre waren es 1900. Jedes Jahr eröffnen etwa 100 weitere
Einrichtungen. Größte Träger sind die katholische und evangelische Kirche (80
Prozent), es folgen 200 Waldorf-Schulen und Montessori-Einrichtungen.
Neuerdings etablieren sich bilinguale Ketten wie die Phorms AG, die Kinder von
der Krabbelgruppe bis zum Abitur begleiten, oder Little Giants für Kindergarten-
Kinder.Die Wartelisten sind lang, geboten wird dort: zweisprachiger Unterricht,
kleine Gruppen und Ganztagsbetreuung. Fremdsprachen

Chinesisch für Anfänger

Vorschul-Englisch gehört heute zum Standard. Hunderte von Sprachschulen
kooperieren mit Kindergärten, Schulen oder bie ten privaten Gruppenunterricht
an. Marktführer ist das Helen-Doron-Sprachzentrum mit mehr als 80 Schulen für
Kinder ab zwölf Wochen, jede zweite Wo che eröffnet eine neue Filiale. Daneben
expandieren der Mortimer English Club, Starchild English, Happy Young
Learning, das Little English House sowie Berlitz mit seinem „Sesame English“
für Kleinkinder. Auch Französisch, Spanisch und Italienisch stehen auf dem
Stundenplan. Das China Coaching Center und das Shanghai Institut trimmen
Kinder auf Chinesisch.

Schlaue Zwerge

Bildung beginnt im Säuglingsalter. Die Frühförderung der Babys hat sich Walt
Disney gesichert – mit Baby Einstein, Baby Bach, Baby Shakespeare als DVD,
Videokassette, CD. Stoffhasen und Eisenbahnen wandern über den Bildschirm, dazu
erklingen Beethoven, Kinderverse auf Hebräisch oder englische Kinderlieder. 14
Millionen Dollar spielen die Baby-Streifen weltweit ein. Um die Förderung der
Drei- bis Sechsjährigen buhlen zahlreiche Anbieter. Franchise-Ketten wie
Fastrackids trimmen Vorschüler in Kommunikation, klassischer Bildung,
Ökonomie. Die Lust an Naturwissenschaften wollen das Science-Lab an über 70
Stand orten und das „Haus der klei nen Forscher“, eine Kooperation von
McKinsey, Siemens und der Hopp-Stiftung, wecken. Auch die japanische Kette
Kumon wächst. In 180 Filialen pauken Schüler und Vorschüler Mathe, bei
laufender Stoppuhr.

Nachhilfe – Jeder Zweite zahlt extra

Zwischen einer und drei Milliarden Euro geben Eltern laut Schätzungen für
Nachhilfe aus. Das bedeutet: Jeder zweite Haushalt findet private Förderung
neben dem Unterricht ganz normal. Woche für Woche überweisen Eltern 22
Millionen Euro an die Nachhilfelehrer, dabei sind Nachbarskinder und
Studenten gar nicht mitgerechnet.

4000 offizielle Nachhilfe-Schulen gibt es mittlerweile in Deutschland,
Marktführer sind die Anbieter Studienkreis und Schülerhilfe, die fast in jeder
größeren Stadt eine Filiale haben. Die Schulen pauken nicht nur nachmittags
Mathe, Französisch oder Latein mit den Schülern, sie bieten auch Lerncamps am
Tegernsee oder in Südtirol in den Ferien an. Dabei ist bei den meisten Schülern
(etwa 80 Prozent) die Versetzung gar nicht gefährdet, sie wollen vielmehr ihre
Note aufbessern. Von diesem Trend profitieren auch die Buchverlage: Mit Sach-
und Fachbüchern, Übungsheften und Lernsoftware drillen Schüler sich zunehmend
selbst. Die Materialien für den „Nachmittagsmarkt“ weisen seit einigen Jahren
zweistellige Zuwachsraten auf.

FAZ vom 22. März.2009 (Druckausgabe), Bettina Weiguny

Dazu in der HerunterLade (die URL in Ihren Brauser/Browser übertragen)

Gestohlene_Kindheit.mpg
http://www.mediafire.com/download.php?wpnnvnlmm04
Kinder als Projektionsfläche für elterlichen Ehrgeiz: Englisch-Kurse für Kleinkinder, danach Frühenglisch in der Schule und obendrein ein Chinesisch-Kurs. Nur für selbstbestimmtes Spielen bleibt keine Zeit mehr.
Kindheit ade! Dauer 7 Minuten, Größe 73 MB, Format 688×384

Schnullerenglisch_Fast_Track_Kids.mpg
http://www.mediafire.com/download.php?3e45wmjmx0m
WDR – Deutsche Welle 2008. Eltern im englischen Elite-Wahn: „Fast Track Kids“ (sprich Kleinkinder) wochentags in einem englischsprachigen Kindergarten, am Wochenende obendrein ein Marketing-Kurs auf Englisch. Zum Spielen bleibt keine Zeit, stattdessen nur „spielerisches“ Englischlernen. Trotzreaktion eines der überforderten Kids: „Ich will kein Englisch!“. Dauer 9 Minuten, Größe 76 MB, Format 640×352

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