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Eine Sprache – viele Paten

Das Englische als Mischsprache

Ausser Sprachhistorikern ist kaum jemandem bewusst, dass das Englische seiner
Abstammung nach ein deutscher Dialekt ist. Wieso sind dann Englisch und
Deutsch so radikal verschiedene Sprachen?

Die Angeln und Sachsen, die im 5. Jahrhundert nach Britannien übersetzten,
kamen hauptsächlich von der jetzt niedersächsischen und
schleswig-holsteinschen Küste. Die Namen der Regionen East Anglia, Essex,
Sussex und Wessex erinnern an Angeln und Niedersachsen in Norddeutschland,
ihrer Heimat. Als Name der gemeinsamen Sprache hat sich schon vor über
tausend Jahren Englisc, also «anglisch», durchgesetzt; sie könnte auch
Seaxisc “ «sächsisch», heissen.

Angelsächsische Texte und altsächsische Texte vom Kontinent, die vier
Jahrhunderte nach der Abwanderung der Angelsachsen von der kontinentalen
Nordseeküste nach Britannien entstanden, sind ohne Mühe als Texte ein und
derselben Sprache zu erkennen, mit dialektalen Unterschieden, wie sie in
allen grossen Sprachen üblich sind. Heute aber brauchen Deutschsprachige
viele Jahre Unterricht, um nur einigermassen Englisch zu sprechen; und viele
Anglofone finden das Deutsche nahezu unlernbar. Was ist geschehen?

Wandel durch Sprachkontakt

Alle Sprachen ändern sich; aber Sprachen in starkem Kontakt mit anderen
Sprachen ändern sich schneller. Dabei sind drei Arten des Kontakts zu
unterscheiden. Kommen militärisch überlegene Sprecher einer anderen Sprache
ins Land, so setzt sich im Regelfall auf lange Sicht eine der beiden Sprachen
durch, nämlich entweder die Sprache der Eindringlinge, das Superstrat, oder
die Sprache der einheimischen Masse der Bevölkerung, das Substrat; die
verlierende Sprache verschwindet allerdings nicht, ohne in der überlebenden
Sprache erhebliche Veränderungen zu verursachen. Diese Veränderungen sind
sehr verschieden, je nachdem, welche Sprache gewinnt.

Gewinnt das Superstrat, so bedeutet dies, dass die Masse der Bevölkerung die
Sprache der vergleichsweise wenigen Herrschenden lernen muss. Die Linguistik
spricht von Sprachenwechsel. Die Lernenden konzentrieren sich dabei auf den
Wortschatz. Was sie nur unvollkommen meistern, ist die Struktur der
Superstratsprache. Das heisst, sie tragen ihren eigenen Satzbau und ihre
eigene Aussprache in die Zielsprache hinein. So entsteht eine neue Sprache,
die im Wesentlichen den Wortschatz des Superstrats, aber starke Anteile der
Struktur des Substrats aufweist. Gewinnt hingegen das Substrat, lernen also
die Eindringlinge die Sprache der Masse der Bevölkerung, so bleibt die
Struktur dieser Sprache im Wesentlichen unbeeinflusst. Aber während der
langen Zeit des Zusammenlebens übernehmen die Massen wegen der Macht und des
Einflusses «derer da oben» und des Prestiges ihrer Sprache zahlreiche Wörter
aus dem Superstrat. Es ist ein extremer Fall der Wortentlehnung.

Keltische und dänische Einflüsse

Britannien war vor der Eroberung von Briten bewohnt, die Britonisch, eine
keltische Sprache, sprachen, verwandt mit dem in Wales überlebenden
Walisischen und dem Bretonischen der Bretagne, ferner mit dem Gälischen am
Westrand Schottlands und in Irland, dort auch Irisch genannt. Mit der
Eroberung Britanniens durch die Angeln und Sachsen geriet ihr Niederdeutsch
in den Mund der Briten. Die Folge war eine typische substratale
Transformation der Sprachstruktur: Die Aussprache und die Satzstruktur wurden
keltisiert, aber keltische Lehnwörter im Englischen gibt es nur wenige.

Zum Beispiel haben alle kontinentaleuropäischen Sprachen eine eigene
Ausdrucksweise für sogenannte affizierte Possessoren, nur die Sprachen der
keltischen Inseln (Britannien und Irland) nicht. Im Angelsächsischen sagte
man wie in allen Sprachen des Kontinents Sie wusch sich die Hände, Sie schlug
ihm den Kopf ab . Nur im Englischen (und entsprechend im Walisischen) sagt
man Sie wusch ihre Hände, Sie schlug seinen Kopf ab (She washed her hands,
She cut off his head) . Schon im Altenglischen findet sich gelegentlich die
neue keltische Ausdrucksweise; im Mittelenglischen geht die ererbte deutsche
Sprechweise ganz verloren; das keltische Substrat hat sich durchgesetzt. – Zu
den zahlreichen strukturellen Neuerungen, die von Spezialisten dem keltischen
Substrateinfluss zugeschrieben werden und die das Deutsche nicht besitzt,
gehören etwa das Progressivum (He is running neben He runs), die
do-Periphrase (He does not run, Does he run?) und uneingeleitete Relativsätze
(Typus The man I saw [vs. The man whom I saw]).

Die Frage, wie das Keltische der Inseln seinerseits diese uneuropäischen
Strukturen erworben habe, wird von den Fachleuten nach demselben Modell
beantwortet: durch den Sprachenwechsel einer semitischsprachigen
Vorbevölkerung zur Sprache der keltischen Eroberer.

In der Zeit der Wikingereinfälle rissen die Dänen zeitweilig die Herrschaft
über England an sich. Ihre altnordische Sprache wurde dadurch zum Superstrat
(vgl. das dänische Lehnwort law, «Gesetz»), längerfristig allerdings nur
regional, im Osten und Norden des Landes (Danelaw). Vor allem dort ist es zu
einer regelrechten Durchmischung des Wortschatzes gekommen, wodurch viele
dänische Wörter auch in den englischen Allgemeinwortschatz eindrangen. Dabei
wurde oft einfach das angelsächsische Wort durch seine altnordische
Lautentsprechung ersetzt (z. B. ei durch egg ) “ und manchmal trat das
altnordische Wort mit geringfügig anderer Bedeutung an die Seite des
angelsächsischen (z. B. skirt neben shirt ) . Die Erstreckung des Danelaw in
England lässt sich noch heute gut an den dänischen Ortsnamen auf -by ablesen.
Am dänischen Einfluss auf das Angelsächsische ist das Bemerkenswerteste die
Ersetzung einiger sogenannter Formwörter, z. B. beim Personalpronomen,
nämlich im Plural: angelsächsisch hie, him, hiera, englisch they, them,
their; vgl. altnordisch thei-r, theim, theirra. Entlehnungen in diesem
Bereich sind im Kontakt der Sprachen der Welt sehr selten.

Umgekehrte Machtverhältnisse

So wie die Angelsachsen einst die keltischen Briten unterworfen hatten,
wurden sie selbst im Jahre 1066 von den französischsprachigen Normannen unter
Führung von Wilhelm dem Eroberer überrannt. Das einstmalige Superstrat wurde
nun, 600 Jahre später, zum Substrat des Französischen. Was geschah? Genau
das, was die linguistische Theorie vorhersagt: So wie das keltische Substrat
die Struktur des Angelsächsischen keltisierte, aber das Vokabular fast
unverändert liess, so hat das französische Superstrat das Vokabular des
Angelsächsischen stark romanisiert, aber keinen nennenswerten Einfluss auf
seine Struktur ausgeübt.

Der Theorie gemäss sind die Bereiche Militär, Regierung, Rechtswesen, aber
auch der Alltagswortschatz mit Tausenden französischer Lehnwörter besetzt. Im
militärischen Vokabular finden sich etwa : army, navy, peace, enemy, battle,
arms, siege, defense, ambush, retreat, soldier, guard, spy, sergeant,
brandish, vanquish u. v. a. Im Bereich Staatswesen und Gemeinschaftsleben:
state, government, court, crown, council, sovereign, treaty, tax, treason,
public office, noble, duke, peasant, servant; sermon, prayer, penance,
parson, saint, pity, virtue, penitence u. v. a. Im Rechtswesen: judgement,
justice, crime, plea, suit, advocate, prison, punishment, accuse, arrest,
seize, pardon, just, innocent, property, heritage, estate u. v. a. Ausdrücke
aus zahlreichen Sphären des täglichen Lebens wären etwa air, cost, country,
hour, face, point, noise, use, easy, change, large, able, wait, travel, blue.

Hierin drückt sich aus, dass Französisch drei Jahrhunderte lang in England
Staatssprache und Umgangssprache der herrschenden Schicht war. Das Englische
hat den Wortschatz eines unterworfenen und lange fremdbeherrschten Volkes.
Besonders deutlich wird dies an der Doppelung der Bezeichnungen für die
essbaren Tiere: Sie haben germanische Namen, wenn sie im Wald oder auf dem
Hof leben (deer, ox, calf, sheep, pig) “ aber französische als Fleisch
(venison, beef, veal, mutton, pork) . Dies ist nicht die verfeinerte Sprache
einer gehobenen Kultur, wie die Engländer glauben, sondern die Sprache von
Dienern: Sie mussten ihre normannischen Herren wie überall, so auch bei Tisch
bedienen. Im Französischen gilt venaison, bouf, veau, mouton, porc für die
Tiere wie für ihr Fleisch, so wie auch im Deutschen Wild, Rind(fleisch),
Kalb(fleisch), Schaf(fleisch), Schwein(efleisch).

Wie sehr das durch die Fremdeinflüsse aus dem Angelsächsischen entstandene
Englische eine romanische Sprache geworden ist, beweisen die folgenden
Zahlen. Sie zeigen, wie in Wörterbüchern nicht nur die angelsächsischen „
sondern auch die französischen Anteile zunehmen, je mehr man die erfassten
Wörter auf den Kernwortschatz, das heisst auf die gebräuchlichsten Wörter „
beschränkt.

Anzahl der Wörter: 77 000 28 000 4000

Angelsächsisch: 23% 28% 47%
Französisch: 29% 36% 38%
Lateinisch (mit Griechisch): 35% 24% 10%

Dies zeigt, dass es sich beim französischen Einfluss nicht um normale
Entlehnung handelt, sondern um gesellschaftlich erzwungene Aneignung.

Normale Entlehnung zeigen die lateinischen Lehnwortanteile. Sie sind zwar
auch aussergewöhnlich hoch, höher als in irgendeiner anderen Sprache. Wir
wissen auch warum: Das Französische hat wichtige angelsächsische
Wortbildungsverfahren zerstört und hat zugleich, bildlich gesprochen, die
Entlehnungsschleusen geöffnet, so dass das Englische jahrhundertelang
bereitwillig aus dem Lateinischen und über dieses aus dem Griechischen
entlehnte, den beiden Sprachen, die auf allen Gebieten der abendländischen
Kultur das höchste Ansehen geniessen. Aber selbst die lateinischen Anteile
verhalten sich im Englischen insofern lehnguttypisch, als sie anders als die
französischen zum Kernwortschatz hin prozentual abnehmen, wie die Übersicht
zeigt.

Fazit

Linguisten benutzen den Ausdruck «Mischsprache» nicht gern, weil alle
bekannten Sprachen der Welt mehr oder minder grosse Anteile an
Ausdrucksweisen anderer Sprachen übernommen haben. Aber das Englische ist ein
extremer Fall: Vor allem durch den Sprachenwechsel der keltischen Briten zum
niederdeutschen Angelsächsischen und den mehrere Jahrhunderte währenden
Lehnwortstrom aus der französischen Sprache der normannischen Herren ist eine
neue Sprache, eine Sprache neuen Typs entstanden. Wenn also irgendeine
Sprache von Weltgeltung das Epithet «Mischsprache» verdient, dann ist es das
Englische.

Anders als die einstige «Schwestersprache» Englisch hat das Deutsche eine
vergleichsweise ruhige Sprachentwicklung durchgemacht: Strukturell ist
Deutsch die am wenigsten veränderte aller germanischen Sprachen.
Superstrateinflüsse gibt es aus dem napoleonischen Französischen; aber die
Zeit war zu kurz, als dass mehr als ein paar hundert Lehnwörter eingedrungen
wären. Der wichtigste kulturelle Einfluss war und ist seit zweitausend Jahren
das Lateinische und über dieses das Griechische, allerdings bei weitem nicht
im selben Ausmass wie im Englischen. Seit dem 19. Jahrhundert macht sich in
einigen Bereichen des deutschen Wortschatzes nun freilich seinerseits das
Englische bemerkbar.

Von Theo Vennemann, Neue Zürcher Zeitung vom 31. Mai 2008
Theo Venneman lehrte Sprachwissenschaft an der Universität München und ist
auch nach der Emeritierung weiterhin in Forschung und Lehre tätig.

http://www.nzz.ch/nachrichten/international/eine_sprache__viele_paten_1.746982.htm

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