Rettet die Erdäpfel

Es war ein Mittagessen mit denkwürdigen Folgen. Am 31. März 1994 saß eine kleine Gruppe hochrangiger österreichischer Landesvertreter in einem Restaurant in der Brüsseler Rue Stevin beisammen. In trauter Runde wurden jene 23 Wörter festgelegt, für die man bei der Europäischen Union Rechtsstatus erwerben wollte. Die Liste war eine Art Gründungsurkunde Österreichs im Zeitalter der Globalisierung, ein Dokument, mit dem die Identität des kleinen Landes zumindest kulinarisch abgesichert werden sollte.

„Eierschwammerl“ und „Marillen“, „Topfen“ und „Karfiol“, „Vogerlsalat“ und „Erdäpfel“ wurden unter anderem für wert befunden, ins „Protokoll Nr. 10 über die Verwendung spezifisch österreichischer Ausdrücke der deutschen Sprache im Rahmen der Europäischen Union“ aufgenommen zu werden. Siebzehn Jahre später, in denen Wiener Massenmedien zum Beispiel titeln konnten: „Österreichs Spezialität gerettet: EU lässt uns unsere Marmelade!“, ist das große Projekt gefährdet.

Es herrscht Krieg in der Küche und am Kuchenbüffet. Der Grund: Die Deutschen kommen. Sie sind dabei, das alpenländische Idiom zu unterwandern, ohne dass Brüssel etwas dagegen tun könnte. 46 000 Deutsche sind mittlerweile im österreichischen Gastgewerbe beschäftigt. Das „EU-Protokoll Nr. 10“ ist ihnen powidl, wie man in Österreich sagt, wenn man egal meint, Marillen werden bei der Bestellung im Restaurant unversehens zu Aprikosen, Eierschwammerln zu Pfifferlingen. Doch damit nicht genug. Man hört, wie Servierkräfte mit sächsischem Zungenschlag versuchen, den Wiener Charme zu imitieren, und man sieht, wie sie dabei scheitern.

So nicht, ihr Deutschen! So nicht, Brüssel! Es genügt nicht, Wörter unter Schutz zu stellen, um ihre Identität und Aura zu wahren. Im Namen des Tourismus ist zu fordern: Schützt auch den original österreichischen Kellner! Gebt ihm ein offizielles EU-Zusatzprotokoll! Der österreichische Kellner ist ein Prototyp, ein untertänigster Herrscher, der das Land in seiner sprachlich-moralischen Reinkultur verkörpert. Wenn Wissenschaftler dem Österreicher bescheinigen, dass er äußerst pragmatisch kommuniziert, dann trifft das auf den Kellner erst recht zu.

In „Entschuldigungssituationen“ neigen die Alpenländler dazu, „deutlich mehr gesichtswahrende Explikationen für entschuldigungsträchtige Verstöße zu verwenden“ als andere, wie es in einer umfassenden Studie heißt. Die „direkte Nennung des Problems“ werde vermieden. „Österreichische Sprecher sind im Vergleich zu deutschen in der öffentlichen Kommunikation eher indirekter, im privaten Kontext aber wesentlich direkter.“ Nie würde der österreichische Kellner dem Gast ins Gesicht sagen, was er von ihm hält. Er sagt es leise für sich, seine Grantigkeit zeigt immensen sprachlichen Variantenreichtum. Die Sprache Österreichisch ist mehr als „Vogerlsalat“ und „Erdäpfel“, mehr als Schwa-Tilgung, Nasalassimilation und Lenisierung. Sie ist eine vor allem im Kontakt mit dem Fremden virulent werdende philosophische Haltung. Oder wie es der Schriftsteller Herbert Eisenreich formuliert hat: „Österreichisch ist der Zweifel an der faktischen und der Glaube an die sprachliche Realität“.

Paul Jandl,  Die Welt,  28. Juni 2011
http://www.welt.de/print/die_welt/kultur/article13454570/Rettet-die-Erdaepfel.html

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