Gedankenlosigkeit und Wettbewerbsstreberei
Die deutsche Sprache ist kein Globalisierungsopfer. Ihre schwindende
Bedeutung ist die Folge einer „selbstverschuldeten Unmündigkeit“: „Wir“ – das
heißt: Schulen und Universitäten, Kultusministerien, Forschungsinstitute und
-gemeinschaften – haben viel dafür getan, das Deutsche zu marginalisieren, ja
zu eliminieren. „Wir“ haben das Schiff schon verlassen, lange bevor es
Anzeichen für ein Sinken gibt.
Es ist ein Unding, naturwissenschaftliche Fächer in deutschen Schulen und
Universitäten auf Englisch zu unterrichten, weil eben nicht nur „Formeln“ zu
vermitteln sind, sondern Denkformen, Denkstile. Auch Naturwissenschaften sind
auf Versprachlichung angewiesen; die darf man nicht einem radebrechenden
Lehrer überlassen. Wenn „wir“ das Englische als die für die
Naturwissenschaften gemäße Sprache ansehen, bedeutet das längerfristig, dass
das Deutsche in diesen Disziplinen nicht mehr als „Begriffssprache“
ausgebildet, „ausgebaut“ wird. Da ist es bis zum Menetekel einer
,Freizeitsprache“ nicht mehr weit.
Es ist vollends ein Unfug, wenn Sozial- und Geisteswissenschaftler meinen,
englisch sprechen und schreiben zu sollen, damit man sie „international“
versteht. Ihr deutsches Englisch ist in seiner Schwerfälligkeit meist kaum
verständlich. Wer meint, über deutsche Philosophen von Kant bis Heidegger und
Adorno auf Englisch schreiben zu sollen, müsste sich über die Grenzen des im
Englischen Möglichen (und seiner Tradition) im Klaren sein. Wer kann das
schon?
Jede Sprache bedeutet eine eigene Welt, ein eigenes Denken, eine eigene
Mentalität, eigene, einmalige, mit keiner anderen Sprache geteilte
grammatische Möglichkeiten, sich auszudrücken. Es wird in Deutschland zur
Zeit, auch von Zweitsprachlern (Türken, Arabern, Spaniern), hervorragend
geschrieben: einfallsreich, differenziert, die Möglichkeiten des Deutschen
erweiternd. Nur Gedankenlosigkeit, Geistes- und Geschichtsferne und windige
Wettbewerbsstreberei sind zuständig für den Abbau des Deutschen an Schulen
und Universitäten.
Klaus Reichert, FAZ – Reading Room – vom 24.April 2008
Klaus Reichert, geboren 1938 in Fulda, ist seit 2002 Präsident der Deutschen
Akademie für Sprache und Dichtung. Zuletzt erschienen „Die unendliche
Aufgabe. Zum Übersetzen“(2003), seine Übersetzung der Sonette William
ShakespearesINSERT INTO `skd_posts` VALUES(2005), „Lesenlernen. Über moderne Literatur und das
Menschenrecht auf Poesie“INSERT INTO `skd_posts` VALUES(2006) und „Je näher man ein Wort ansieht, desto
ferner sieht es zurück. Sprachglossen deutscher Autoren“INSERT INTO `skd_posts` VALUES(2007).