VerDingt
Ein Theaterstück zum Thema Verdingkinder
von E. Y. Meyer
(ar) Seit 1997 finden jedes Jahr in den Sommermonaten Juli und August auf der Moosegg, einem Höhenzug im Emmental, fast 1000 m über Meer, abseits der Heerstrasse, Freilichtaufführungen statt. In der Spielzeit 2007 wurde das Mundartstück „VerDingt“ von E. Y. Meyer aufgeführt. Was Verdingkind-Sein in den meisten Fällen bedeutet, lässt sich knapp zusammenfasssen:
„Du chasch nüüt, du bisch nüüt, us dir gits nüüt.“ – Sie wurden auf Bauernhöfe abgeschoben, gequält und missbraucht, sie haben gelitten, geschwiegen und geduldet: die Verdingkinder. (nach: www.eymeyer.ch)
Das aufwühlende Stück fand in der Presse ein gutes Echo, hier ein paar Stimmen:
Im Kulturteil des „Blick“ versucht Walo von Fellenberg eine knappe Charakterisierung von Meyers Drama zu geben:
„Meyer hat brutale und rührende, manchmal unterhaltende, manchmal moralisierende Szenen um zwei herausragende Schriftsteller gruppiert: Jeremias Gotthelf (1797-1854) und Carl Albert Loosli (1877-1959). Beide haben auf die Armut und das Verdingkinder-Elend aufmerksam gemacht, Loosli hatte 1924 einen Feldzug gegen die Anstalten und für die Schaffung eines Jugendrechts eröffnet.
Meyers Darstellung der Missstände zeichnet sich durch eine differenzierte Deutung aus. Er verurteilt nicht. Doch wenn am Schluss ein Vater seine beiden Töchter Änneli und Gritli wiederfindet und mit ihnen in den Tod geht, bleibt keiner ungerührt.“
Pia Strickler, die Berichterstatterin des „Bund“, ist besonders beeindruckt von den Schicksalen der vier Verdingkinder aus dem frühen 20. Jahrhundert, deren Lebenslauf in mehreren ineinander verflochtenen Szenen sich nach und nach vor uns entrollt, und vom packenden Spiel der vier kindlichen Darstellerinnen und Darsteller:
„Erschütternde Schicksale von Verdingkindern – im Emmental des 19. und 20. Jahrhunderts gab es Tausende davon – werden sichtbar gemacht. Anneli, Margritli, Paul und Sämi heissen die vier Kinder, deren Leidenswege exemplarisch gezeigt werden. Verdingt aus Armut … leiden sie alle bei ihren Meistersleuten an gnadenloser Ausbeutung, körperlicher und seelischer Quälerei und grausamem Liebesentzug. Nur eines der vier schafft es schliesslich, nach diesem Martyrium weiterzuleben …
Berührend sind diese Schicksale. Und berührend ist die Art und Wiese, wie sie von den jungen Schauspielerinnen und Schauspielern dargestellt werden. Sei es die Wandlung vom unbekümmerten kleinen Mädchen zum verschüchterten Verdingkind, sei es die immer wieder aufkeimende Kraft zur Bewältigung des schier Unmöglichen oder sei es die blanke Hoffnungslosigkeit – die Kinderdarsteller bringen alle Facetten ihrer Figuren mit beeindruckender Intensität auf die Bühne und tragen einen grossen Teil dazu bei, dass dieser Theaterabend tief unter die Haut geht.“
Mit „Du bisch nüüt, us dir gits nüüt“ betitelt Ursina Stoll-Flury ihren Bericht in der „Berner Zeitung“ und fügt an: „Berührend und beklemmend spielen Kinder die tragischen Schicksale von Verdingkindern.“ Zum Stück insgesamt schreibt sie:
„Autor E. Y. Meyer hat sich intensiv mit der Verdingkindthematik befasst. Über 100’000 Kinder haben in der Schweiz während Jahrzehnten dieses grausame Schicksal erlitten. Das Emmental habe ein unrühmliche Hauptrolle in diesem „Geschäft“ gespielt, Jeremias Gotthelf war der Erste, der in seinem „Bauernspiegel“ darüber schrieb – sonst wurde dazu von allen Seiten geschwiegen. Ja, bis heute sei der Einblick in Akten zur Aufarbeitung dieser Schicksale nicht immer einfach, weiss Meyer.“
In einem Kurzinterview mit dem „Blick“ schildert E.Y. Meyer, wie er dazu kam, ein Stück über Verdingkinder zu schreiben, und wie er dabei vorging:
„Ich beschäftige mich seit jeher mit Gotthelf und dem Emmental, und im Kanton Bern gab es besonders viele Verdingkinder. Gotthelf war einer der Ersten, der sich für die Verdingkinder einsetzte. Darum habe ich zugesagt, als mich Peter Leu, der Regisseur von ‚VerDingt’, angefragt hat, ob ich ein Stück schreiben würde.
Ich habe viel gelesen, auch Berichte ehemaliger Verdingkinder, und ich habe mich mit Verdingkindern und ihren Nachfahren unterhalten. Etwa 100″000 Kinder wurden auf Bauernhöfe weggegeben, wo sie schuften mussten wieTiere. Misshandlungen waren normal. Bis heute sind 10 bis 20 Prozent der Schweizer Bevölkerung direkt von der Verdingkinder-Vergangenheit betroffen.“
Szene 3: Noch ist aus dem Pfarrer Albert Bitzius nicht der Schriftsteller Jeremias Gotthelf geworden; auf einem seiner zahlreichen Gänge der Emme entlang denkt er über die soziale Not nach, die ihm in seinem Amt tagtäglich begegnet.
Szene 5: Im „Bauernspiegel“, seinem ersten Buch, schildert Gotthelf im 7. Kapitel mit dem Titel „Die Bettlergemeinde“, wie arme Kinder, Waisen, Halbwaisen, Kinder aus armen, kinderreichen Familien öffentlich versteigert werden, und zwar an Leute, die ein möglichst geringes Kostgeld dafür begehren. E. Y. Meyer hat diese Schilderung aus dem „Bauernspiegel“ der Szene 5 zugrunde gelegt.
Und dann der längere erste Teil einer Szene, die im frühen 20. Jahrhundert spielt:
Szene 12: Zwei Verdingbuben begegnen sich am Rande eines Sonntagschultreffens und erzählen einander von ihrem traurigen Leben. Eine „hervorragende Szene“, urteilt eine der Kritikerinnen; der Gegensatz zwischen den „salbungsvollen Predigerworten“, dem „lauten Halleluja“ und der tiefen Not der beiden Buben erschüttert und weckt Zorn und Scham. (ar)
Wald. Sommer. Vogelgezwitscher. Flussrauschen.
Si mache Chinder u chönne se nachhär nid ufzieh.
Me laht se chuum i d Schuel gah.
Gerede einer Menschenmenge. Dorfplatz. Menschengewimmel wie auf einem Markt. Doch es werden keine Waren angeboten. Es werden Kinder betrachtet von oben bis unten, die weinend oder verblüfft dastehen. Die Bündelchen, die sie dabei haben, werden geöffnet, die Kleider darin betastet. Die Kinder werden angepriesen, es wird nachgefragt, verhandelt.
Eine Mutter mit einem grossen Bündel und einem acht Jahre alten Knaben mit einem schönen neuen Halstuch steht abseits.
In der Menschenmenge brüllt ein Mann los. Ein Bub neben ihm weint und schreit herzzerreissend.
Un i wott my Bueb wider zrügg!
Der Mann will den Buben schlagen. Dieser flüchtet sich zwischen die Beine der Umstehenden.
Der Mann geht fluchend weg. Eine Frau mit einem Korb voller Wecken geht durch die Menge.
Eine Witwe mit zwei Mädchen kauft beiden zusammen einen halbbatzigen Wecken. Die Mädchen teilen ihn und essen ihn schnell auf.
Ein Mann mit vier Kindern ruft diese aus.
Die Witwe beginnt zu weinen. Jeremias geht zu den Mädchen, bricht zwei Stücke von seinem Wecken ab.
Die Mädchen zögern. Dann greift das jüngere zu, dann das ältere.
Die Witwe schliesst die beiden Mädchen in die Arme.
Ein zerlumpter Mann begutachtet Jeremias von allen Seiten.
Ein weiterer Mann tritt zu Jeremias. Dieser beginnt zu weinen und hängt sich an die Mutter.
Der Mann geht von Jeremias weg. Der Gemeindevorsteher fasst einen gut gekleideten Bauern ins Auge, der einen schwarzen Hund bei sich hat.
Vereinshaus des Christlichen Brüdervereins. Feier des jährlichen Sonntagschultreffens.
dass ihr für die Sünde tot seid,
aber für Gott lebt in Christus Jesus,
So soll nun die Sünde nicht herrschen
durch die Begierden des Leibes gehorcht.
Gebt auch nicht eure Glieder der Sünde hin
als Werkzeug der Ungerechtigkeit,
sondern gebt euch selbst Gott hin
als solche, die lebendig geworden sind
(Lied „Jesus errettet mich jetzt“)
Zwei Buben, Paul und Samuel, entfernen sich vom Vereinshaus und nähern sich einander zögernd. Samuel trägt eine Zöttelikappe.
Wiu mer z viu Ching gsy sy.
U du weisch nid, wär dyner Eutere sy?
dass mi e Frou isch cho reiche.
Mer si dür ne fischtere Waud glüffe.
Dür d Böim het me der Mond gseh.
De nimmen i vom Fueter vo de Tier.
Werum hesch die Zöttelichappen anne?
Samuel zieht die Kappe vom Kopf. Sein kahl geschorener Schädel erscheint, auf dem sich einzelne verkrustete Flecken befinden.
I ha gseit, i heig fasch ke Schnuuf meh.
Han i ds Chärschtli uf em Chopf gah.
Die hei si mer nachhär abgschnitte.
Werum hei si mi eifach furtgheit?