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Die Muttersprache nicht vergessen

Die Fremdsprachendebatte läuft zu kurzatmig. Pragmatisch ist es zwar wichtig, dass alle Englisch lernen – als universale Zweitsprache. Kulturell entscheidend aber ist, die Erstsprachen vor Verarmung zu schützenMan muss Herrn Buschor dankbar sein – nicht so sehr für seinen kantonalen Entscheid, den er nur mangelhaft begründet hat, als für die Folge dieses Entscheids: dass er nämlich eine nationale Sprachdebatte ausgelöst hat. Diese wäre meiner Meinung nach aus drei Gesichtspunkten zu führen: 1. Die Muttersprachen – sowohl die Dialekte als auch die Schrift-sprachen – sind unbedingt zu schützen und zu fördern. 2. Wir benötigen im Informationszeitalter eine universale und nicht bloss nationale Verständigungssprache. 3. Wir brauchen national für das Zusammenleben in unserem Land zumindest die Kenntnis der deutschen und der französischen Sprache. Die drei Forderungen lassen sich begründen und miteinander verbinden.
Erstens. Die Muttersprachen sind unbedingt zu schützen und zu fördern. Wenn dies nicht geschieht, müssen wir im kommenden Jahrhundert mit einem Sprachensterben ohnegleichen rechnen. Die Sprachwissenschaftler schätzen, dass es vor 2000 Jahren noch ungefähr 12 000 Sprachen gab, heute etwa 6000, und dass von diesen im kommenden Jahrhundert bis zu neunzig Prozent verschwinden könnten. Die Sprachen sind die Gestirne im symbolischen Kosmos der Menschheit und der Organismus der unterschiedlichen Kulturen. Wenn eine Sprache stirbt, stirbt eine Kultur. Das Sterben der Kulturen als unterschiedliche Lebensformen ist neben dem Sterben der unterschiedlichen Lebens-Arten die selbst verschuldete Tragödie der Verarmung der humanen Lebenswelt.
Man mag einwenden, dass diese Tendenz kaum die europäischen Sprachen bedrohe und deshalb in der Debatte übergangen werden könne. Aber diese Einschätzung wäre zu sorglos. Liegt denn gegenwärtig nicht bereits die deutsche Wissenschaftssprache, jedenfalls der Naturwissenschaften, im Sterben? Und nicht ebenfalls die deutsche Sprache der Technik und der Wirtschaft? Von allen Rändern her bricht das zunehmend dominante Englisch in die unterschiedlichen Bereiche der anderen Sprachen ein.
Dieser Prozess beschleunigt sich so stark, weil die pragmatischen Erwartungen zugleich mit einer mythischen Hoffnung verbunden sind, die einer totalitären Versuchung gleichkommt: dass wir es doch noch schaffen, vor Babel zurückzufinden in die eine Sprache der Menschheit. Die Realisierung wäre ein Horror des symbolischen Totalitarismus, vergleichbar der schlechthinnigen Dominanz eines Glaubens, einer Weltanschauung, einer Lebensform. Im Verhältnis zu all diesen Einheiten der symbolischen Macht ist die Pluralität der Sprachen und der Lebensformen das kulturelle Kapital der Menschheit. Dass wir Sprachen lernen müssen und lernen können, bricht die Gehäuse auf, die in jeder einzelnen Sprache auf ihre Weise liegen. Die Mehrsprachigkeit entwurzelt uns nicht, sondern macht uns differenzverträglich. Die
Vielheit der Sprachen aber wird am besten geschützt, indem jede Kultur ihre Muttersprache(n) schützt.
Zweitens. Wir brauchen eine universale Verständigungssprache. Denn je mobiler und vernetzter die Menschheit ist und je globaler ihre Aufgaben und Strategien sind, desto notwendiger wird es, dass jeder Mensch mit jedem anderen kommunizieren kann. Diese universale Kommunikationsfähigkeit ist eine Idee, die aus vielen Gründen nie gänzlich verwirklicht werden wird. Aber ein Weg der Annäherung ist denkbar. Er besteht darin, dass sich die Menschheit insgesamt auf eine universale Zweitsprache einigt. Im Prinzip könnte dies jede beliebige lebendige Sprache oder sogar eine neu geschaffene (Esperanto) sein. Aber so wie die Welt nun einmal ist, muss es wohl, aus Gründen des grössten gemeinsamen Nutzens, Englisch sein. Es ist entscheidend, dass dieses Englisch als Lingua franca nicht als alleinige Weltsprache definiert wird, sondern bloss als universale Zweitsprache. Diese Wortwahl besagt, dass es für die meisten Kulturen noch eine Erstsprache gibt, eben die betreffende Muttersprache, die durch die gemeinsame Zweitsprache weder zurückgedrängt noch gar eliminiert werden soll.
Ein Schutz aller Muttersprachen wird nur realisierbar sein, wenn er die Entfaltung der universalen Kommunikationsfähigkeit nicht behindert. Und eine universale Lingua franca ist nur wünschenswert, wenn sie die Muttersprachen nicht verdrängt. Während des Kalten Krieges wäre ein entsprechendes Projekt aus ideologischen und machtpolitischen Gründen gescheitert. Heute stehen die Chancen gut, weil es vermutlich einen Konsens gibt, dass Englisch für die heranwachsende Generation als Fremdsprache von grösserem Nutzen ist als irgendeine andere Sprache. Das heisst nicht etwa, dass alle Fremdsprachen-Probleme aus dem Blickpunkt des Nutzens zu lösen seien – wohl aber das Problem der universalen Zweitsprache. Es ist zu hoffen, dass die Unesco sich dieser Aufgabe der universalen Kommunikationsfähigkeit annimmt, die nicht bloss ein nationales oder gar kantonales Problem ist. Aber es ist vernünftig, national und kantonal zu handeln, bevor ein universales Überein-kommen besteht.
Drittens. Wir benötigen national mindestens die Kenntnis der deutschen und der französischen Sprache. Es mag zwar scheinen, dass dieses Postulat, das ja nicht allen Landessprachen gerecht wird, durch eine universale Zweitsprache hin-fällig werde. Wie eine in der «Sonntagszeitung» veröffentlichte Umfrage zeigt, sind offenbar viele Bürgerinnen und Bürger unseres Landes dieser Meinung. Etwa 28 Prozent möchten Englisch auch als eidgenössische Verständigungssprache haben. Aber es geht hier nicht um ein logisches Problem der Redundanz, sondern um ein kulturelles und politisches Problem der Zugehörigkeit.
Muttersprachen prägen Welterfahrung
Wenn Englisch die nationale Verständigungssprache wäre, fiele der wechselseitige Versuch dahin, wenigstens in eine romanische Kultur unseres Landes oder in die Kultur der Deutschschweiz einzudringen. Dies wäre die völlige Kapitulation vor der Fremdheit der anderen Landesteile, das Eingeständnis, dass wir einander nur noch als Fremde unter Fremden wahrnehmen und begegnen. Einen derartigen Affront können sich die Landesteile nicht leisten, falls die politische und kulturelle Ganzheit des Landes nicht bloss ein Aggregat unter einem fremden Dach sein soll. All das hat nicht das Geringste mit Nostalgie zu tun, sondern mit einem Zugehörigkeitsempfinden, das der emotionale Kern der Identität ist. Dieses Empfinden ist primär in den Muttersprachen verankert und wird im Erlernen einer anderen Landessprache aus-geweitet. Eine universale Zweitsprache bietet dafür keinen Ersatz.
Die drei Gesichtspunkte hängen zusammen. Die Muttersprachen als die jeweiligen symbolischen Organismen der Kulturen sind in ihrer Prägefunktion für die primäre Welterfahrung unersetzlich, aber heute dennoch gefährdet, weil sie nicht nur Kommunikationsfähigkeit intrakulturell herausbilden, sondern sie zugleich interkulturell begrenzen. Die zunehmend universal vernetzte Welt erfordert die Idee der universalen Kommunikationsfähigkeit aller Menschen, zu deren Annäherung eine gemeinsame Verständigungssprache als universale Zweitsprache nötig ist.
Die Mängel der Debatte
Die unterschiedlichen Kultursprachen werden in weiterer Zukunft nur über-leben, wenn sie die Herausbildung einer universalen Kommunikationsfähigkeit nicht behindern. Und die universale Zweitsprache ist nur wünschenswert, wenn sie die Muttersprachen nicht verdrängt. Die zweite Funktion einer gemeinsamen Lingua franca nach der universalen Kommunikationsfähigkeit ist gerade der Schutz der Muttersprachen.
Da diese überleben sollen, wird es immer auch kulturpolitische nationale und regionale Probleme der Mehrsprachigkeit geben, die durch eine universale Zweitsprache nicht befriedigend gelöst werden können. Betrachtet man die Debatten der letzten Wochen, so zeigen sich Mängel und Verkehrungen. Das basale Problem der Muttersprachen ist vergessen worden. Der universale Aspekt einer gemeinsamen Zweitsprache ist mit dem helvetischen Problem des notorischen Kommunikationsdefizits über den Röstigraben vermengt oder gar verwechselt worden, und die Zusammenhänge zwischen den drei Aspekten sind nirgends zur Sprache gekommen. Die pragmatische Frage – wann fangen wir im Unterricht womit an? – ist der Grundlage-Reflexion vor-ausgegangen und hat sie verdrängt, und der spektakuläre Entscheid für das Frühenglisch hat mehr Verwirrung als Nachdenken hervorgerufen.
Dennoch glaube ich, dass zumindest in einem Punkt richtig entschieden worden ist: nämlich in der markanten Vorverlegung des Fremdsprachenunterrichts. Er erfordert allerdings eine Sprachpädagogik, die diesem Lebensalter angemessen ist. Sind die Lehrerinnen und Lehrer wirklich darauf vorbereitet? Die Frage, ob für die deutschsprachigen Kantone Englisch oder Französisch wichtiger sei, kann nicht aus einem einzigen Gesichtspunkt beantwortet werden. Englisch ist unter dem universalen Aspekt wichtiger, Französisch unter dem kulturpolitischen der Schweiz.
Ob man mit Englisch oder Französisch zuerst beginnen soll, ist schliesslich eine Ermessensfrage. Da sie nicht zwingend beantwortet werden kann, würde ich dazu raten, auch die Kinder zu befragen, was sie als Erstes lernen möchten. Ich vermute, sie wären mit grosser Mehrheit auf der Seite von Herrn Buschor.
Hans Saner ist Philosoph und lebt in Basel Die Weltwoche, Nr. 39, 28. Sept. 2000.

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