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Sprachpillen – einst und jetzt Ist alles gesagt?

Vor mehr als 60 Jahren hat Otto von Greyerz diese Wortschöpfung geprägt und unter diesem Titel eine ganze Serie von interessanten Sprachbetrachtungen veröffentlicht. Dr. Alfred Reber ist kürzlich wieder darauf gestossen und war bereits nach kurzer Lektüre von der ungebrochenen Frische und Aktualität dieser Texte beeindruckt.
Wir geben hier das vollständige Vorwort des grossen Sprachkenners im Original wieder und werden auch in den kommenden Ausgaben hie und da aus dieser reichen Quelle schöpfen. Nicht zuletzt möchten wir damit auch Sie, verehrte Leserinnen und Leser, zu ähnlichen Betrachtungen und zu einer aktiven und zeitgemässen Sprachpflege ermuntern. Der Redaktor versucht zumindest, sich darin zu üben und bittet die gesamte Leserschaft um weitere Anregungen. Schliesslich sollen es Pillen mit positiven Neben- und Nachwirkungen werden!
Vorwort
Sprachpillen? Was für ein sonderbares Wort! Gibt es denn so etwas?
Aufrichtig gesagt, ich weiss nicht, ob es schon «Sprachpillen» gegeben hat. Aber ich gebe sie, und somit gibt es sie. Und warum sollte es sie nicht geben? Gibt es doch Pillen für schwache und krankhafte Körperteile aller Art, für verkalkte Arterien, untätige Schleimhäute, erschlafftes Gedärm und so weiter, warum nicht auch für ein abgestumpftes Sprachgefühl, ein ungewecktes oder eingeschlafenes oder verdorbenes Sprachgewissen? Arzneipillen haben den Vorteil, dass sie schmerz-los und ohne Zeitopfer eingenommen werden, harmlos und niedlich aussehen und obendrein oft angenehm schmecken. Liessen sich diese Vorzüge nicht auch für eine Sprachkur verwenden? Die wenigsten Leute sind für umständliche grammatische Belehrungen zu haben; schon die Fachausdrücke haben einen Schulgeschmack für sie, der ihnen die Esslust nimmt. Aber vielleicht, in kleinen Dosen und mit guter Laune dargereicht, vermöchten solche Sprachpillen doch ihren Gaumen zu reizen.
Wozu aber? Was liegt daran? – O, viel liegt daran, mehr als die meisten Leute denken. Ist doch die Selbsterkenntnis der unvermeidliche Weg zur Weisheit, und die Sprache, die Muttersprache vor allen andern, der treuste Spiegel unsres Wesens. Und jeder liebt seine Muttersprache. Das ist natürlich und darum all-gemein. Wenn man erst wüsste, wie interessant sie ist! Wie unsre Heimat, unsre Geschichte, unsre Stammesart, unsre Natur-, Lebens- und Staatsauffassung in ihr ausgeprägt sind! Nicht jeder hat in der Schule die lebendige Sprache, die Sprache seines eigenen Lebens, aufmerksam betrachten gelernt. So manchem ist nur die gedruckte und geschriebene Schriftsprache als wichtig hingestellt worden, und wichtig nur oder doch hauptsächlich wegen der Grammatik und der Rechtschreibung! Und mit diesem armseligen Schulbegriff von Sprache ist er ins Leben hinausgetreten, blind für die Schätze seiner Mundart und die Schönheiten und Altertümer der deutschen Dichtersprache. Nie ist der Gedanke ihm gekommen, selber mitverantwortlich zu sein für den Zustand seiner Muttersprache, sich um ihretwillen in Zucht zu nehmen, sie nicht zu verunstalten und zu entwürdigen, sondern hochzuhalten, zu pflegen und sich in ihr und durch sie zu vervollkommnen. Sprachliche Kultur! Ein fremder Begriff. Und doch wäre sie der greif-barste Beweis nationaler Selbstachtung, Selbstbesinnung.
Nur freilich, als Massenhandlung ist Sprachkultur nicht zu denken; sie wird immer vom Einzelnen ausgehen, vom Einzelnen geleistet werden müssen. Irgendeinmal, durch irgendein unberechenbares Erlebnis, wird in einem Menschen Sprachgeist geweckt: wie eine Erleuchtung kommt es über ihn, was er Köstliches an seiner Muttersprache besitzt. Sein inneres Ohr tut sich auf, und schöpferische Kräfte, bisher kaum geahnte, drängen sich zu schwelgendem Genuss und nacheifernder Betätigung. Wie ein unerschöpfliches Meer dehnt sich die Sprache vor ihm aus – ein Meer, aus dem er noch kaum mit einem Eimer geschöpft hat. Bewunderung, Ehrfurcht, Liebe erfüllen ihn statt der früheren Gleichgültigkeit, Stumpfheit, Taubheit; wo er früher nichts sah und hörte als Buchstaben und Laute, grammatische Formen und Regeln, sieht er jetzt Geschichte, Ursprung und Entwicklung, Sinnfälliges und Bildliches, hört er jetzt Wurzellaute, Schallnachahmungen und Lautsinnbilder. Er fängt an, in die Tiefe der Sprache zu schauen, immer tiefer, wie in ein fesselndes Rätsel. Auf den Grund dringt keiner.
Sprachgeist zu wecken, Liebe, Ehrfurcht und Verantwortung gegenüber unsrer Muttersprache, ist der Wunsch dessen, der diese Sprachpillen gedreht hat.
Bern, Sommer, 1938 O.v.G.

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