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Pech für die Romands? – Nein, viel mehr!

Allem Optimismus der Englisch-Begeisterten zum Trotz sei die Frage
gestellt: Wie steht es denn nun um die Landessprachen, in denen sich die
Kinder aus den verschiedenen Regionen der Schweiz dereinst mit ihren
Kollegen anderer Muttersprache verständigen sollen? Reden die
Deutschschweizer in absehbarer Zeit Englisch mit den Welschen und den
Tessinern?
Pech für die Romands

Von Denise Lachat Pfister

Die Ostschweiz will in der Primarschule also Frühenglisch einführen. Die
Schüler haben den Plausch an der Sprache, die Eltern drängen, die Lehrer
ziehen mit und «die Wirtschaft» freut sich, wenn die Sprösslinge schon
früh in der Lingua franca des internationalen Business parlieren lernen.
Toll.

Allem Optimismus der Englisch-Begeisterten zum Trotz sei die Frage
gestellt: Wie steht es denn nun um die Landessprachen, in denen sich die
Kinder aus den verschiedenen Regionen der Schweiz dereinst mit ihren
Kollegen anderer Muttersprache verständigen sollen? Reden die
Deutschschweizer in absehbarer Zeit Englisch mit den Welschen und den
Tessinern?

Sensibler für die Kluft im Land

Als unser Land nach der Abstimmung über den EWR am 6. Dezember 1992
entlang der Sprachgrenze auseinanderzubrechen drohte, beschlossen
National- und Ständeräte die Schaffung von sogenannten
Verständigungskommissionen. Sie sollten untersuchen, ob der nationale
Zusammenhalt in Frage gestellt sei, und was allenfalls dagegen
unternommen werden könnte.
[Nun] aber geschieht das genaue Gegenteil dessen, was die
Verständigungskommissionen empfohlen haben. Von den 16 dringenden
Massnahmen, die sie formulierten, betrifft nämlich rund die Hälfte die
Sprache. «Bedeutender und auf nationaler Ebene erfolgender Ausbau des
zweisprachigen Unterrichts von der Primarschulstufe an; Ermunterung
durch Immersionsunterricht, eine andere Landessprache zu erlernen»:
Diese Massnahmen stehen zuoberst auf der Liste der Empfehlungen. Geben die Deutschschweizer mit ihrem Entscheid den Westschweizern zu
verstehen, dass sich solche Anstrengungen zehn Jahre nach dem EWR-Nein nicht mehr lohnen?

Die Logik des Marktes

Die Romands haben auf den Entscheid aus der Ostschweiz nicht mit einem
Schrei der Empörung reagiert; sie quittierten ihn mit einer Mischung aus
Verdruss, Verunsicherung und Galgenhumor. Wie sonst sollte die
Minderheit auf einen Affront der Mehrheit reagieren, der mit der
Rechtfertigung wattiert ist, Französisch werde ja nicht abgeschafft,
sondern bloss etwas später unterrichtet? Und wer wollte schon so
empfindlich sein, die Relegation seiner Sprache ins zweite Glied gleich
als Desinteresse an der eigenen Person und Kultur zu interpretieren?

Tatsache sei eben, dass die englische Sprache den Kindern näher stehe
als die französische, begründeten die Ostschweizer Erziehungsdirektoren
ihren Entscheid von letzter Woche. Pech für die Romands! Ihre Sprache
ist nicht gefragt, und wo keine Nachfrage besteht, rechnet sich das
Angebot nicht. So will es die Logik des Marktes.

Deutschschweiz schliesst Ränge

Aus der Sicht der Romandie schliesst die Deutschschweiz die Ränge: Vor
der Ostschweiz hat sich bereits die Zentralschweiz für Frühenglisch
entschieden. Offen ist nur noch die Haltung von Solothurn, Aargau und
den beiden Basel. Und wie halten es die Compatriotes ihrerseits mit dem
Deutschunterricht? Dass ihre Kinder nicht sonderlich gerne Deutsch
lernen, ist kein Geheimnis.

Und wie entschied die Waadtländer Erziehungsdirektorin ?
Deutsch wird künftig ab der dritten Primarklasse unterrichtet, ein Jahr
früher als bisher. «Wäre Chinesisch die Sprache der Wirtschaft, verlangte sie von uns den Chinesischunterricht», sagt die verantwortliche Staats-rätin. Ihr sind die nationalen Interessen wichtig. Das gilt auch für die zweisprachigen Kantone Bern, Wallis und Freiburg, und auch in Genf, Neuenburg und dem Jura bleibt Deutsch die erste Fremdsprache. Natürlich gehorcht die Minderheit im Land damit ebenfalls einem wirtschaftlichen Zwang. An der Sprache der Mehrheit, die auch in der Wirtschaft die Fäden zieht, kommt sie nicht vorbei, ohne sich selbst zu schaden.

Umso unangenehmer muss die Feststellung sein, dass die Deutschschweizer umgekehrt das Französische als weniger nötig erachten. «Die Gesellschaft will es so», argumentieren die Befürworter von Englisch als erster Fremdsprache. So erhält die Gesellschaft also ihren Willen – zumindest in der deutschsprachigen Schweiz. Für die Willensnation aber, als die man unser Land nach wie vor gerne bezeichnet, müsste vielleicht ein Plätzchen im Mottenschrank freigeräumt werden. Denn in der heutigen Lust- und Spassgesellschaft sinkt ihr Marktwert: Sie ist viel zu wenig cool.

St. Galler Tagblatt vom 5.Nov.2002
(gekürzt durch SKD)

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